Jankiel Wiernik: Ein Jahr in Treblinka

 

(übersetzt ins Deutsche von Jan Skorup, März 2014 – 70 Jahre nach der Erstpublikation im besetzten Polen).

 

Zur Einführung….

wird hier ein kleiner ins Deutsch übersetzte Abschnitt aus dem Buch „Ten jest z ojczyzny…“ von Władysław Bartoszewski wiedergegeben, der im Sommer 1964 in einer polnischen Zeitschrift zu Jankiel Wiernnik abgedruckt wurde. Dieses Buch zu den polnischen Gerechten unter den Völkern liegt leider immer noch nicht auf Deutsch vor. Bartoszewski, einer der wichtigsten Personen des polnischen Widerstandes gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg, beschreibt seine Begegnung mit Wiernik:[1]

„Es geschah in Warschau, im Sommer 1943. Erst vor einigen Wochen waren die letzten Schüsse im Ghetto verstummt, in dem sich im Mai und April organisierte Gruppen der jüdischen Jugend den Einheiten der SS, der deutschen Polizei und der Wehrmacht heldenhaft entgegengestellt und Haus um Haus eingenommen hatten. In der Stadt herrschte Terror, der sich mit den zunehmenden Niederlagen der Deutschen an der Front steigerte. Kein Tag verging ohne Hausdurchsuchungen und Strassensperren. Man unternahm diese, um untergetauchte Juden, sich vor der Zwangsarbeit im Reich versteckende polnische Jugendliche sowie Waffen, Presseerzeugnisse des Untergrunds und verbotene Radioempfänger zu suchen. Es verging keine Woche ohne Massenrepressionen: Ende Mai wurden über 500 Polen – Männer und Frauen – erschossen, die im sogenannten Pawiak (dem Warschauer Gestapo-Gefängnis in der Dzielna-Strasse) inhaftiert gewesen waren. Doch im Juni war der Pawiak wieder mit neuen Verhafteten gefüllt.

Unter diesen Bedingungen war sich niemand sicher, ob er den nächsten Tag erleben würde. Anfang August erschien in der Wohnung der Familie Krzywoszewski in der Smolna-Strasse 25 ein unerwarteter Gast. Der Literat, Dramaturg und ehemalige Warschauer Theaterdirektor Stefan Krzywoszewski war gerade mit seiner Frau aus der Stadt weggefahren. In der Wohnung befanden sich nur die Schwiegertochter des Schriftstellers, Irena (die Witwe des Anwalts Stanisław Krzywoszewski, den man im Dezember 1940 in Oświęcimi ermordet hatte), ihr Töchterchen Małgosia, eine Vertraute der Haushälterin. Die Überraschung, aber auch die Beunruhigung der Frauen ist verständlich, als sie in dem Ankömmling den ehemaligen Hausverwalter des bereits zerstörten Hauses der Familie Krzywoszewski Jankiel Wiernik erkannten. Wiernik hatte sich mit ihnen noch in den ersten Jahren der Okkupation getroffen. Im Sommer 1942, zu der Zeit der Massendeportationen der Ghettobewohner in die Todeslager, riss der Kontakt zu ihm ab. Jetzt kam er aus Treblinka zu ihnen. Der Name des Ortes reichte aus, um Entsetzen hervorzurufen. Es zeigte sich, dass man ihn am 23. August 1942 dorthin deportiert hatte – er hatte als Zimmermann-Meister überlebt und war von der SS bei dem Bau der Gaskammern eingesetzt gewesen. In Treblinka wurde er Zeuge davon, wie man Tausende seiner Glaubensgenossen ermordete. Schliesslich war er einer derjenigen, die den bewaffneten Aufstand mitorganisierten. Am 2. August 1943 versuchten die Häftlinge das Lager zu zerstören. Mit Glück konnte Wiernik entkommen. An einer kleinen Bahnstation in der Nähe von Treblinka schmuggelte er sich vor Tagesanbruch in einen Güterzug, der Richtung Warschau fuhr, und gelangte so in die Wohnung der Familie Krzywoszewski – er war davon überzeugt, dass man ihm hier helfe. Er hatte noch die blutige Axt bei sich, die er bei seiner Flucht einem Lageraufseher weggenommen hatte.

Er täuschte sich nicht: Obwohl das Verstecken eines Juden in Polen mit dem Tod aller Mitglieder der hilfeleistenden Familie bestraft wurde. Die Familie Krzywoszewski kümmerte sich um ihn und behielt ihn in der Wohnung, und sie stattete ihn nach einigen Tagen mit einer falschen Kennkarte auf den polnischen Nachnamen Kowalczyk aus. Das Haus in der Smolna-Strasse war aber ein sehr ungeeigneter Zufluchtsort für einen Flüchtenden, dessen Ergreifen der Gestapo eine aussergewöhnliche Befriedigung verschafft hätte: Er war doch einer der sehr wenigen Zeugen des in Treblinka durchgeführten Massenmordes. Im gleichen Haus hatte die Botschaft der Schweiz ihren Sitz, deren Portier namens August Gering den Hausbewohnern als ein gefährlicher Gestapo-Spitzel bekannt war.

Nach einer gewissen Zeit wurde Wiernik-Kowalczyk daher in der nahegelegenen Wohnung der Frau Bukowski untergebracht, einer Bekannten der Krzywoszewskis. Mit den entsprechenden Dokumenten ausgestattet, konnte er sich jetzt relativ frei in der Stadt bewegen. Sein „arisches“ Aussehen war ihm dabei hilfreich, und er fiel den Deutschen nicht auf. Schnell konnte er Kontakt mit den Mitgliedern der jüdischen Geheimorganisationen aufnehmen, die sich in Warschau unter den Polen versteckten und dort tätig waren. Er war für sie besonders als Zeuge historisch bedeutender Ereignisse interessant. Im Winter 1943 schrieb er so gut wie er konnte seine Lagererlebnisse nieder. Das war nicht einfach für ihn, da er kein Mensch war, der in seinem Leben viel geschrieben hatte. Sein Bericht aus Treblinka zu den erschütterndsten Dokumenten der Hitler-Besatzungszeit Polens.

In den Kreisen der aktiven Verschwörer – im ŻKN (Żydowski Komitet Narodowy, dem Jüdischen Naionalkongress, einem Verbund der Geheimorganisationen der linken Sionisten) sowie dem jüdischen Bund – wollte man darauf den Bericht Wierniks drucken und die schreckliche Wahrheit über Treblinka im besetzten Polen und vor allem im Ausland, bei den mit Deutschland Krieg führenden Alliierten, verbreiten.

Dabei halfen die Organisationen des Polnischen Untergrunds. Der Geheime Judenhilfsrat (Tajna Rada Pomocy Żydom, der in Warschau seit 1942 tätig war) verfügte über eine geheime Druckerei im Stadtzentrum (in der Nowy-Świat-Strasse 43); sie wurde von „Marek” – [Ferdynand] Arczyński betrieben. Hier druckte man mehrfach Geheimdokumente, unter anderem Flugblätter, die von den an der Regierung beteiligten polnischen Unabhängigkeitsorganisationen unterschrieben wurden, und die die polnische Gesellschaft aufforderten, sich so zahlreich wie möglich an der Hilfe für die Juden zu beteiligen.

Adolf Berman vom Jüdischen Nationalkongress und Leon Feiner vom Bund übermittelten Arczyński zu Anfang des Jahres 1944 das Skript mit den Erinnerungen Wierniks. Es trug den Titel: „Rok w Treblince“ [Ein Jahr in Treblinka].

Es waren ein paar Dutzend Schreibmaschinenseiten, deren Druck unter normalen Bedingungen eine Kleinigkeit gewesen wäre. Diese Seiten setzten zwei polnische Schriftsetzer, und sie hatten so wenig Lettern, dass sie nur für ein paar Seiten reichten. Sie druckten diese und setzten dann neue Seiten, druckten diese und benutzten dieselben Lettern beim Setzen der nächsten Seiten. Bald war die ganze Auflage der Broschüre fertig – es handelte sich wohl um 2000 Exemplare.

Auf dem Umschlag von „Rok w Treblince” war das Erscheinungsjahr (1944) sowie die Aufschrift angebracht. Der Band wurde von der Koordinationskommission aufgelegt (einem während der Besatzungszeit existierenden gemeinsamen Organ zwischen dem ŻKN und dem Bund, das Verteidigungsaktionen und Hilfeleistungen absprach). Die Broschüre verbreiteten Menschen unterschiedlichster Überzeugungen: Mitglieder der Geheimorganisationen (Sozialisten, Demokraten, Volksdemokraten, Pfadfinder und Katholiken) sowie einige vertrauenswürdige Buchhändler und Antiquare, die einen Teil der Auflage zwischen legal verkauften Büchern lagerten. Persönlich sicherte ich mir damals 100 Exemplare des Wiernik-Berichts; ein paar Dutzend verteilte ich näheren Bekannten, weitere Dutzend gab ich in die Hände von  Tadeusz Sokołowski und Antoni Trepiński – das waren Antiquare, die mit der Verbreitung geheim verlegter Drucke Erfahrung hatten. Ich erinnere mich, dass die Broschüre grossen Eindruck hinterliess – obwohl sie nicht die erste Geheimpublikation der Hitlerverbrechen war.

„Rok w Treblince” wurde auf Mikrofilm gebracht und bald mit weiteren anderen Dokumenten und Berichten des polnischen Untergrundes auf geheimem Weg nach London gebracht. Einer der damaligen Abnehmer dieser Unterlagen (Prof. Olgierd Górka) erzählte mir nach dem Krieg, dass das Erscheinen des Überlebensberichts von Wiernik im Westen auf ein breites Echo stiess, obwohl die Situation der Juden in Polen und der Verlauf der Vernichtungsaktionen im Frühling 1944 kein Geheimnis mehr waren. Denn im Herbst 1942 hatte schon der Kurier des polnischen Untergrundes Jan Karski aus Warschau eine Dokumentation über die deutschen Verbrechen an den Juden nach England gebracht. Die [Exil]Regierung von General Sikorski bekam das Material und versuchte die Welt aufzurütteln. Das damalige polnische Aussenministerium adressierte am 10. Dezember 1942 eine diplomatische Note an die Regierung der USA bezüglich der Judenvernichtung in Polen. Man betonte, dass es nicht ausreiche, die Verbrechen zu verurteilen, sondern man Mittel ergreifen müsse, die weitere Verbrechen verhindern. […]

 

 

Ein Jahr in Treblinka

 

Geschätzter Leser,

nur Ihnen zuliebe halte ich an meinem jämmerlichen Leben fest, obwohl es für mich seinen ganzen Reiz verloren hat. Wie kann ich frei atmen und all das geniessen, was die Natur erschaffen hat?

Immer wieder wache ich mitten in der Nacht erbärmlich stöhnend auf. Entsetzliche Albträume reissen mich aus dem Schlaf, den ich so bitter nötig habe. Ich sehe tausende Skelette, die mir ihre knochigen Arme entgegenstrecken, wie um Erbarmen und das Leben zu betteln, aber ich – schweissgebadet – bin nicht imstande ihnen zu helfen. Und dann springe ich auf, reibe meine Augen und bin tatsächlich froh, dass das alles nur ein Traum war. Mein Leben ist bitter: Phantome, Tote, jagen mich, Kindergespenster, kleine Gespenster, immer nur Kinder.

Ich habe diejenigen geopfert, die mir am nächsten und am teuersten waren. Ich selbst habe sie an den Ort der Hinrichtung gebracht. Ich habe ihre Todeskammern gebaut.

Heute bin ich ein heimatloser, alter Mann ohne Dach über dem Kopf, ohne Familie, ohne nächste Angehörige. Ich führe Selbstgespräche. Ich beantworte meine eigenen Fragen. Ich bin ein Nomade. Mit einem Gefühl der Angst gehe ich durch menschliche Siedlungen. Mir ist so, als ob alle meine Erlebnisse auf meinem Gesicht geschrieben stehen. Immer, wenn ich mein Spiegelbild in einem Fluss oder einer Pfütze betrachte, dann verzerren Ehrfurcht und Erstaunen mein Gesicht zu einer hässlichen Grimasse. Sehe ich wie ein menschliches Wesen aus? Nein, ganz bestimmt nicht. Zerzaust, unordentlich, verwahrlost. Es scheint, als ob ich die Last mehrerer Jahrhunderte auf meinen Schultern trage. Die Last ermüdet, sie ermüdet sehr, aber vorläufig muss ich sie tragen. Ich will, und ich muss sie tragen. Ich, der den Untergang dreier Generationen erlebt hat, muss weiterleben – der Zukunft zuliebe. Die Welt muss von der Schande dieser Barbaren erfahren, damit sie in den Jahrhunderten von den kommenden Generationen verflucht werden können. Und ich muss dafür sorgen, dass es geschieht. Keine Vorstellung – egal wie kühn – könnte in der Lage sein, das geistig zu erfassen, was ich gesehen und durchlebt habe. Kein Schreibstift, auch wenn er noch so leicht von der Hand geht, kann dies schriftlich festhalten. Ich möchte alles genau darstellen, damit die ganze Welt weiss, wie „westliche Kultur“ ausgesehen hat. Ich habe gelitten, als ich viele Millionen Menschen in ihren Untergang geführt habe – damit viele Millionen Menschen alles darüber erfahren können. Dafür lebe ich. Das ist mein einziges Lebensziel. In Ruhe und Einsamkeit setze ich meine Geschichte zusammen und präsentiere sie gewissenhaft, fehlerfrei. Ruhe und Einsamkeit sind meine engen Vertrauten. Nur das Zwitschern der Vögel leistet mir Gesellschaft bei meiner Mühe und meinem Nachdenken. Die lieben Vögel. Sie haben mich immer noch gern, sonst würden sie nicht so fröhlich zwitschern und sich nicht so schnell an mich gewöhnen. Ich liebe sie, so wie alle Geschöpfe Gottes. Vielleicht werden die Vögel meiner Seele Frieden bringen. Vielleicht werde ich eines Tages wieder lachen können. Vielleicht wird das dann sein, wenn ich meine Arbeit beendet habe und wenn sich die nun zwischen uns geknüpften Bande wieder lösen.

 

 

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Es geschah in Warschau am 23. August 1942 während der Blockade.[2] Ich war zu Besuch bei meinem Nachbarn und kehrte nie wieder nach Hause zurück. Wir hörten Gewehrschüsse aus allen Richtungen, aber hatten keine Ahnung von der bitteren Wirklichkeit. Unser Schrecken wurde noch grösser, als deutsche Scharführer und ukrainische Wachmänner hereinkamen und laut drohend schrien: „Alle raus“.

Auf der Strasse bildete ein Scharführer Reihen aus den Menschen, ohne Rücksicht auf das Alter oder Geschlecht – seine Tätigkeit verrichtete er mit einen fröhlichen, zufriedenen Lächeln auf seinem Gesicht. Gewandt und mit schnellen Bewegungen war er hier, dort und überall. Er musterte uns, seine Augen blickten die Reihen hinauf und wieder herab. Mit einem sadistischen Lächeln betrachtete er die grosse Leistung seines allmächtigen Staates, der in der Lage war, mit einem Schlag den Kopf der abscheulichen Hydra abzuhacken.

Er war der Gemeinste von allen. Ein menschliches Leben bedeutete ihm nichts – zu töten und unermässlich zu foltern war seine grösste Lust. Wegen seiner „Heldentaten“ wurde er bald darauf zum Scharführer befördert. Sein Name war Franz.[3] Sein Hund hiess Barry, über den ich später sprechen werde.

Ich stand in der Reihe direkt gegenüber meines Hauses in der Wolynska-Strasse. Von dort wurden wir in die Zamenhof-Strasse gebracht. Die Ukrainer teilten unseren Besitz vor unseren Augen unter sich auf. Sie stritten, öffneten alle Bündel und sichteten ihren Inhalt.

Trotz der grossen Anzahl Menschen hüllte sich die Menge in Schweigen, und sie ergriff stumme Verzweiflung. Oder war es Resignation? Und immer noch wussten wir die Wahrheit nicht. Sie fotografierten uns wie Tiere. Ein Teil der Menge schien zufrieden, und ich selber hoffte, dass ich nach Hause zurückkehren könne, da ich dachte, dass man uns einer Identifikationsprozedur unterziehe.

Auf einen Befehl setzten wir uns in Bewegung. Und dann – zu unserer Bestürzung – wurden wir mit den nackten Tatsachen konfrontiert. Da waren Güterwagen, leere Güterwagen, die auf uns warteten. Es war ein typisch strahlender und heisser Sommertag. Was für ein Unrecht hatten unsere Frauen, Kinder und Mütter begangen? Warum das alles? Die schöne, leuchtende und strahlende Sonne verschwand hinter Wolken, als ob sie nicht gewillt war, auf unser Leid und unsere Erniedrigung herunterzublicken.

Als nächstes kam der Befehl zum Verladen. Bis zu 80 Personen wurden in einen Wagen gepfercht, ohne eine Möglichkeit zu fliehen. Ich hatte mein einziges Paar Hosen, ein Hemd und ein Paar flache Schuhe an. Ich hatte einen gepackten Rucksack und ein Paar hohe Stiefel bei mir zu Hause zurückgelassen – ich hatte ihn vorbereitet, da es Gerüchte gab, dass wir in die Ukraine zur Arbeit gebracht werden sollten. Unser Zug wurde auf dem Platz von einem Gleis auf ein anderes geleitet.[4] In der Zwischenzeit amüsierten sich unsere ukrainischen Wächter. Ihre Rufe und ihr fröhliches Lachen waren deutlich zu hören.

Die Luft in den Wagen wurde stickig heiss und drückend, und eine unendliche Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung überkam uns alle. Ich sah alle meine Gefährten leiden, aber mein Verstand war immer noch nicht in der Lage, die Unermesslichkeit unseres Unglücks zu erfassen. Ich kannte Leid, brutale Behandlung und Hunger, aber ich erkannte immer noch nicht, dass der erbarmungslose Arm des Henkers uns allen drohte, unseren Kindern, unserer schieren Existenz.

Unter unermässlichen Qualen erreichten wir endlich Malkinia[5], wo unser Zug die Nacht über blieb. Die ukrainischen Bewacher kamen in unseren Wagen und verlangten unsere Wertsachen. Jeder, der etwas hatte, gab es her, um seine Lebenszeit noch ein wenig zu verlängern. Unglücklicherweise hatte ich nichts Wertvolles, da ich mein Haus unerwartet verlassen hatte – und da ich arbeitslos gewesen war und nach und nach alle Wertsachen verkauft hatte, um mich am Leben zu halten.

Am Morgen setzte sich unser Zug wieder in Bewegung. Wir sahen, wie uns ein Zug überholte, der mit zerzausten, halbnackten und ausgehungerten Menschen gefüllt war. Sie sprachen zu uns, aber wir konnten nicht verstehen, was sie sagten.

Da der Tag heiss und schwül war, litten wir grossen Durst. Ich blickte aus dem Fenster und sah Bauern, die mit Wasserflaschen zu 100 Złoty das Stück handelten. Ich hatte nur 10 Silberzłoty mit dem Abbild von Marschall Piłsudski[6] bei mir, die ich als Souvenir aufbewahrte. So musste ich auf Wasser verzichten. Andere kauften es jedoch und auch Brot – ein Kilogramm Roggenbrot kosteten 500 Złoty.[7]

Bis Mittag litt ich unter unglaublichem Durst. Dann betrat ein Deutscher, der später „Hauptsturmführer“ wurde, unseren Wagen und holte zehn Männer, um Wasser für uns alle zu holen. Endlich konnte ich meinen Durst etwas löschen. Man befahl, die Toten zu beseitigen, falls welche da seien, aber es gab keine.

Um vier Uhr nachmittags setzte sich der Zug wieder in Bewegung, und innerhalb weniger Minuten kamen wir in das Lager Treblinka. Erst als wir dort ankamen, dämmerte uns die schreckliche Wahrheit. Der Lagerplatz war voller Leichen; einige hatten noch ihre Kleidung an, andere waren nackt. Ihre Gesichter waren vor Furcht und Schrecken verzerrt, schwarz und geschwollen; die Augen waren weit offen, die Zungen hingen heraus, die Schädel waren eingeschlagen, die Körper verstümmelt. Und – überall war Blut, das Blut unserer Kinder, unserer Brüder und Schwestern, unserer Mütter und Väter.

Hilflos, fühlten wir intuitiv, dass wir unserem Schicksal nicht entkommen und unseren Henkern auch zum Opfer fallen würden. Aber – was konnte man dagegen machen? Wenn es doch nur ein Albtraum wäre! Aber nein, es war wirklich wahr. Wir wurden damit konfrontiert, was der Begriff „Aussiedlung“ bedeutete, eine Aussiedlung in das grosse Jenseits durch unsägliche Folter. Man befahl, dass wir ausstiegen und unser gesamtes Gepäck in den Wagen zurückliessen.

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Sie brachten uns auf den Lagerplatz, der auf beiden Seiten durch Baracken abgegrenzt wurde. Hier hingen zwei grosse Plakate mit grossen Zeichen und Instruktionen, alles Gold, Silber, Diamanten, Geld und weitere Wertsachen auszuhändigen, andernfalls werde man mit dem Tod bestraft. Die ganze Zeit standen ukrainische Wachmänner mit schussbereiten Maschinengewehren auf den Dächern der Baracken.

Die Frauen und Kinder wurden auf die linke Seite befohlen, und den Männern sagte man, sich rechts aufzureihen und sich auf den Boden zu setzen. In einiger Entfernung von uns war eine Gruppe Männer damit beschäftigt, unsere Bündel aufzustapeln, die sie aus den Wagen genommen hatten. Ich schaffte es, mich unter diese Gruppe zu mischen und fing an, mit ihnen zu arbeiten. Da bekam ich meinen ersten Peitschenhieb von einem Deutschen, den wir Frankenstein[8] nannten. Den Frauen und Kindern befahl man, sich auszuziehen – aber ich fand nicht heraus, was weiter mit ihnen geschah. Ich sah sie nie wieder.

Spät am Nachmittag kam ein weiterer Zug von Międzyrzec (Mezrich) an, aber 80% seiner menschlichen Ladung bestand aus Leichen. Wir mussten sie aus dem Zug herausnehmen, unter den Peitschenhieben der Wächter. Endlich hatten wir unsere grauenvolle Aufgabe beendet. Ich fragte einen meiner Mitarbeiter, was das bedeuten solle. Er antwortete nur, dass derjenige, mit dem man heute spreche, am nächsten Morgen schon nicht mehr lebe.

Wir warteten voller Angst und Ungewissheit. Nach einiger Zeit befahl man uns, einen Halbkreis zu bilden. Der Scharführer ging zu uns, begleitet von seinem Hund und einem mit einem Maschinengewehr bewaffneten ukrainischen Wachmann. Wir waren um die 500 Personen. Wir standen stumm und angespannt da. Man nahm ungefähr hundert aus unserer Gruppe, reihte sie zu fünft nebeneinander auf, führte sie etwas weiter weg und befahl ihnen, sich hinzuknien. Ich war unter denen, die man ausgewählt hatte. Plötzlich ratterten Maschinengewehre, und das Stöhnen und Schreien der Opfer zerriss die Luft. Ich sah keinen dieser Menschen je wieder. Mit Peitschenhieben und Gewehrkolbenschlägen wurde der Rest von uns in die Baracken getrieben, die dunkel waren und keine Böden hatten. Ich setzte mich auf die Erde und schlief ein.

Am nächsten Morgen weckten uns laute Schreie aufzustehen. Wir sprangen sofort auf und gingen hinaus in den Hof – unter dem Gebrüll unserer ukrainischen Wachmänner. Als wir aufgereiht wurden, fuhr der Scharführer fort, uns ständig bei jedem Schritt mit der Peitsche und dem Gewehrkolben zu schlagen. Wir standen eine ganze Zeit lang, ohne Befehle zu bekommen, aber die Schläge gingen weiter. Der Tag brach gerade an, und ich dachte, dass die Natur uns durch Blitzschläge zur Hilfe komme, um unsere Peiniger niederzustrecken. Aber die Sonne folgte nur dem Naturgesetz: Sie ging mit leuchtender Pracht auf, und ihre Strahlen fielen auf unsere gefolterten Körper und schmerzenden Herzen.

„Achtung!“ Der Befehl riss mich aus meinen Gedanken. Eine Gruppe Scharführer und ukrainischer Wachmänner, angeführt von Untersturmführer Franz mit seinem Hund Barry, stand vor uns. Franz kündigte einen Befehl an. Auf sein Zeichen begannen sie, uns erneut zu foltern und die Schläge prasselten auf uns nieder. Unsere Gesichter und Körper waren grausam entstellt, aber wir mussten alle weiterhin aufrecht stehen: Wenn sich jemand nur ein wenig vorbeugte, wurde er erschossen, da er damit als arbeitsunfähig galt.

Als unsere Folterer ihren ersten Blutdurst gelöscht hatten, wurden wir in Gruppen eingeteilt. Ich wurde in eine Gruppe gesteckt, die abkommandiert wurde, sich um die Leichen zu kümmern. Die Arbeit war sehr schwer, da wir jeden Körper zu zweit über eine Distanz von ungefähr 300 Metern ziehen mussten. Manchmal banden wir Stricke um die toten Körper, um sie zu ihrem Grab zu ziehen.

Plötzlich sah ich eine lebendige, nackte Frau in einiger Entfernung. Sie war völlig nackt – sie war schön und jung, aber da war ein wahnsinniger Blick in ihren Augen. Sie sagte etwas zu uns, aber wir konnten nicht verstehen, was sie sagte und ihr nicht helfen. Sie hatte sich in ein Bettlaken gehüllt unter dem sie ein kleines Kind versteckte, und sie suchte verzweifelt nach Deckung. Genau da sah sie einer der Deutschen, befahl ihr, in eine Grube zu steigen und erschoss sie und das Kind. Es war die erste Exekution, die ich je gesehen hatte.

Ich schaute die Gruben um mich herum an. Das Ausmass jeder Grube betrug 50x25x10 Meter. Ich stand über einer und wollte eine der Leichen hineinwerfen, als plötzlich ein Deutscher von hinten auftauchte und mich erschiessen wollte. Ich drehte mich um und fragte ihn, was ich getan habe, worauf er mir sagte, dass ich versucht hätte, ohne Anweisung in die Grube zu steigen. Ich erklärte ihm, dass ich nur die Leiche hatte hineinwerfen wollen.

Neben fast jedem von uns war entweder ein Deutscher mit einer Peitsche oder ein mit einem Gewehr bewaffneter Ukrainer. Während wir arbeiteten, schlug man uns auf den Kopf. Etwas weiter weg war ein Bagger, der die Gräben aushob.

Wir mussten die Leichen rennend tragen oder ziehen, und auch nur die kleinste Regelverletzung bedeutete schwere Prügel. Die Leichen hatten schon einige Zeit dagelegen, begannen sich bereits zu zersetzen, und der Verwesungsgeruch verpestete die Luft. Würmer krochen schon über alle Körper. Wenn wir Riemen um die Körper banden, um sie wegzuziehen geschah es oft, dass ein Arm oder ein Bein abfielen. So arbeiteten wir von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ohne Essen oder Wasser an unseren zukünftigen Gräbern. Tagsüber war es sehr heiss, und wir wurden vom Durst gequält.

Als wir in der Nacht in unsere Baracken zurückkehrten, suchte jeder von uns nach den Männern, die wir am Tag zuvor getroffen hatten – aber leider konnten wir sie nicht finden, da sie nicht mehr am Leben waren. Die Bündel Sortierenden wurden viel schneller ein Opfer als die anderen. Weil sie ausgehungert waren, stahlen sie Essen aus den Paketen, die aus den Zügen genommen wurden, und wenn man sie erwischte, dann brachte man sie zu der nächstgelegenen offenen Grube, und ihre erbärmliche Existenz wurde durch eine schnelle Kugel beendet. Der ganze Hof war mit Paketen, Koffern, Kleidung und Rucksäcken übersät, die von den Opfern abgeworfen worden waren, bevor sie ihr Schicksal traf. Als ich arbeitete, bemerkte ich, dass einige der Arbeiter rote oder gelbe Flicken auf ihren Hosen hatten. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Sie bewohnten einen Teil der Baracke, die von uns abgegrenzt war. Das waren 50 Männer und eine Frau. Ich verbrachte vier Tage damit, Leichen zu beseitigen und unter diesen entsetzlichen Umständen zu leben.

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An einem Freitag, ich glaube, es war der 28. August 1942, kamen wir von der Arbeit zurück. Alles lief routiniert ab: “Achtung! Mützen ab! Mützen an!“, dazu gab es eine Rede von Franz. Er ernannte einen Vorarbeiter aus unseren Reihen und einige Kapos, die uns zur Arbeit treiben sollten. In seiner Rede sagte uns Franz, dass wir alles bekämen, was wir brauchen, wenn wir hart arbeiteten. Wenn nicht, dann fände er Mittel und Wege, um mit uns fertig zu werden. Ein Deutscher stelle seine Fähigkeiten dadurch unter Beweis, dass er jede Situation meistere, so Franz. So führen die Deutschen die Deportationen in so einer Weise aus, dass die Juden aus freiem Willen in die Züge drängen, ohne daran zu denken, was sie erwarte. Die ganze Rede von Franz war reichlich mit seinen üblichen Beschimpfungen gespickt.

Am 29. August war das übliche Wecken, aber diesmal war es auf Polnisch. Wir standen schnell auf und gingen hinaus in den Hof. Da wir in unseren Kleidern schliefen, mussten wir uns nicht anziehen – dementsprechend konnten wir dem Befehl schnell Folge leisten und Reihen bilden. Die Befehle wurden in polnischer Sprache gegeben und im Grossen und Ganzen wurden wir höflich behandelt. Abermals hielt Franz eine Rede, in der er sagte, dass man uns von nun an in unseren eigenen Berufen zur Arbeit einsetze.

Als erstes wurden Spezialisten für das Bauwesen aufgerufen. Ich meldete mich als Zimmermann-Meister. Alle aus dieser Gruppe wurden von den anderen getrennt. Wir waren fünfzehn in unsere Baugruppe, und drei Ukrainer wurden ihr als Wachmänner zugeteilt. Einer von ihnen, ein älterer Soldat namens Kostenko sah nicht allzu bedrohlich aus. Der zweite – Andreyev – war ein typischer „Wachmann“ und war mittelgross, stämmig, mit einem runden, roten Gesicht; eine freundliche, ruhige Person. Der dritte – Nikolay – war klein, mager, gemein und hatte böse Augen – der sadistische Typ. Da waren auch noch zwei andere mit Gewehren bewaffnete Ukrainer, die uns bewachen sollten.

Wir wurden in den Wald geführt, und uns wurde befohlen, die Zäune aus Stacheldraht auseinanderzunehmen und Holz zu schlagen. Kostenko und Andreyev waren sehr freundlich. Nikolay jedoch machte reichlich von der Peitsche Gebrauch. Um die Wahrheit zu sagen: Unter denen, die man für die Baukolonne ausgewählt hatte, waren keine wirklichen Fachmänner. Sie hatten sich einfach als „Zimmermann“ gemeldet, weil sie nicht zur Arbeit bei den Leichen eingesetzt werden wollten. Sie wurden ununterbrochen ausgepeitscht und gedemütigt.

Am Mittag hörten wir auf zu arbeiten und gingen in die Baracken zum Essen zurück, das aus Suppe, Grütze und schimmligem Brot bestand. Unter normalen Bedingungen hätte man solch ein Essen als für den menschlichen Konsum ungeeignet angesehen – aber so ausgehungert und müde wie wir waren, assen wir alles auf. Um ein Uhr nachmittags kamen unsere Wachmänner mit den Ukrainern, um uns zur Arbeit zurückzubringen, bei der wir bis zum Abend blieben und dann zu den Baracken zurückkehrten. Dort war die übliche Prozedur, Befehle und so weiter.

Gerade an diesem Tag waren viele Deutsche anwesend, und wir waren über 700. Franz war auch da; mit seinem Hund. Plötzlich fragte er mit einem Lächeln auf seinem Gesicht, ob einer von uns Deutsch könne. Etwa 50 Männer traten vor. Er befahl allen, herauszukommen und eine separate Gruppe zu bilden – er lächelte die ganze Zeit, um unseren Argwohn zu zerstreuen. Die Männer, die zugegeben hatten, Deutsch zu können, wurden weggebracht und kamen nie wieder zurück. Ihre Namen tauchten nicht auf der Liste der Überlebenden auf, und keine Feder wird je in der Lage sein, die Qualen zu beschreiben, unter denen sie starben. Wieder gingen ein paar Tage vorbei. Wir waren bei der gleichen Arbeit eingesetzt und lebten unter den gleichen Bedingungen. Die ganze Zeit arbeitete ich mit einem der Kollegen zusammen, und das Schicksal meinte es seltsamerweise gut mit uns. Vielleicht, weil wir beide Fachmännern in unserem Handwerk waren oder weil wir auserwählt waren, das Leiden unserer Brüder zu bezeugen, ihre gefolterten Körper anzuschauen und zu überleben, um davon zu berichten. Unsere Vorgesetzten gaben mir und meinem Kollegen Kisten für Kalk. Andreyev überwachte uns. Der Wachmann fand, dass unsere Arbeit zufriedenstellend sei. Er zeigte eine beträchtliche Liebenswürdigkeit und gab sogar jedem von uns ein Stück Brot, was eine ziemliche Gaumenfreude war, da wir praktisch den Hungertod starben. Einige Menschen, denen man eine andere Todesform erspart hatte (die ich später beschreiben werde), wurden gelb und aufgedunsen vor Hunger und fielen schliesslich tot um. Unsere Arbeitsgruppe wuchs; weitere Arbeiter kamen hinzu. Die Fundamente für irgendein Gebäude wurden ausgehoben. Niemand wusste, was das für eine Art von Gebäude sein sollte. Auf dem Platz war ein Holzgebäude, das von einem hohen Zaun umgeben war. Die Funktion dieses Gebäudes war geheim.

Ein paar Tage später kam ein deutscher Architekt mit einem Assistenten, und die Bauarbeiten begannen. Es mangelte an Maurern, obwohl viele so taten, als seien sie qualifizierte Arbeiter, um zu verhindern, dass man ihnen befahl, sich um die Leichen zu kümmern. Die meisten dieser Männer wurden jedoch getötet. Einmal, als ich mauerte, bemerkte ich einen Mann, den ich aus Warschau kannte. Sein Name war Razanowicz. Er hatte ein schwarzes Auge, worauf ich schloss, dass man ihn bis zum Abend erschiessen würde. Ein Ingenieur aus Warschau namens Ebert mit seinem Sohn arbeiteten auch mit uns, aber innerhalb kurzer Zeit wurden sie ebenfalls getötet. Das Schicksal ersparte mir nichts.

Einige Tage später erfuhr ich den Zweck dieses Gebäudes hinter dem Zaun, und die Entdeckung liess mich vor Schreck erschaudern.

Die nächste Aufgabe für meinen Kollegen und mich war, Holz zu fällen und zu bearbeiten. Das war schwierig für uns beide. Ich hatte so eine Arbeit schon 25 Jahre lang nicht mehr gemacht, und mein Kollege war ein ausgebildeter Möbelschreiner und nicht sehr geschickt mit der Axt, aber mit meiner Hilfe schaffte er es, seine Arbeit zu behalten. Ich bin ein ausgebildeter Zimmermann, aber viele Jahre lang war ich Mitglied des Prüfungsausschusses der Warschauer Handwerkskammer. In der Zwischenzeit gingen acht weitere unbeschreibliche Tage mühevollen Daseins vorbei. Neue Transporte gab es nicht. Schliesslich kam am achten Tag ein neuer Transport aus Warschau an.

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Das Lager Treblinka war in zwei Teile geteilt. Im Lager Nr. 1 waren ein Abstellgleis und eine Plattform, um die menschliche Fracht auszuladen – und ebenfalls ein weiter, offener Platz, wo das Gepäck der neu Angekommenen aufgehäuft wurde. Juden aus fremden Ländern brachten beachtlich viel Gepäck mit. Lager Nr. 1 umfasste auch ein sogenanntes Lazarett, ein langes Gebäude, das 30×2 Meter mass. Zwei Männer arbeiteten dort. Sie trugen weisse Schürzen und hatten rote Kreuze auf ihren Ärmeln – sie stellten Ärzte dar. Sie selektierten Alte und Kranke aus den Transporten und setzten sie auf eine lange Bank, die einer offenen Grube gegenüberstand. Hinter der Bank reihten sich Deutsche und Ukrainer auf und schossen den Opfern ins Genick. Die Leichen kippten direkt in die Grube. Nachdem sich eine gewisse Anzahl Leichen angehäuft hatte, wurden sie aufgestapelt und angezündet.

Die Baracken, in denen die Deutschen und Ukrainer untergebracht waren, befanden sich in einiger Entfernung davon[9] – genauso wie die Lagerbüros, die Baracken der jüdischen Arbeiter, die Werkstätten, die Pferde- und Schweineställe, das Lebensmittellager und das Waffenmagazin. Die Lagerautos waren im Hof abgestellt. Für einen zufälligen Betrachter machte das Lager einen eher unschuldigen Eindruck und sah wie ein richtiges Arbeitslager aus.

Lager Nr. 2 war vollkommen anders. Es bestand aus einer Baracke für die Arbeiter (30×10 Meter), einer Wäscherei, einem kleinen Labor, Unterkünften für 17 Frauen, einer Wache und einem Brunnen. Zusätzlich waren hier 13 Kammern, in denen Häftlinge vergast wurden. Alle diese Gebäude umgab ein Stacheldrahtzaun. Hinter dieser Umzäunung war eine Grube von 3×3 Metern und entlang dem äusseren Rand der Grube ein weiterer Stacheldrahtzaun. Beide Abgrenzungen waren etwa drei Meter hoch, und es waren Stahldrahtverhau zwischen ihnen. Entlang der Drahtabgrenzung standen Ukrainer Wache. Das ganze Lager (Lager 1 und 2) war von einem vier Meter hohen Stacheldrahtzaun umgeben, der mit jungen Tannenbäumen getarnt war. Vier Wachtürme standen auf dem Lagerplatz, jeder Turm war vier Stockwerke hoch, ausserdem gab es noch sechs einstöckige Beobachtungstürme.

50 Meter hinter der letzten äusseren Abgrenzung waren Panzersperren.

Als ich im Lager ankam, waren schon drei Gaskammern in Betrieb – weitere zehn wurden hinzugefügt, als ich da war. Eine Gaskammer mass 5×5 Meter und war ungefähr 1.90 Meter hoch. Der Abzug auf dem Dach hatte einen luftdichten Aufsatz. Die Kammer war mit einem Zugang für eine Gasleitung ausgestattet sowie einem Fussboden aus Fliessen, der sich einer Plattform zuneigte. Das Ziegelgebäude mit den Gaskammern war von Lager Nr. 1 mit einer Holzwand abgetrennt. Diese Holzwand und die Ziegelwand des Gebäudes bildeten zusammen einen Korridor, der 80 Zentimeter höher als das Gebäude war.[10] Die Kammern waren mit dem Korridor durch eine hermetisch eingesetzte Eisentür verbunden, die in die jeweilige Kammer führte. Auf der Seite des Lagers Nr. 2 waren die Kammern mittels einer Plattform verbunden, die vier Meter breit war und entlang der drei Kammern verlief. Die Plattform war ungefähr 80 Zentimeter über dem Boden. Auf dieser Seite war auch eine hermetisch eingesetzte Tür, aus Holz.

Jede Kammer hatte eine Tür, die in das Lager Nr. 2 hinausging (1.80×2.50 Meter): Die Tür konnte nur von aussen geöffnet werden, indem man sie mit Eisenhaken hochschob; sie war mit Eisenhaken verschlossen, die in den Schieberahmen eingelassen waren, sowie mit Holzbolzen. Die Opfer wurden durch die Türen im Korridor in die Kammern geführt – während die Reste der vergasten Opfer durch die Türen gezogen wurden, die auf Lager Nr. 2 hinausgingen. Das Energiekraftwerk war neben diesen Kammern und versorgte Lager 1 und 2 mit Strom. Ein Motor, den man aus einem auseinandergenommenen sowjetischen Panzer herausgenommen hatte, stand in diesem Kraftwerk. Dieser Motor wurde dazu benutzt, das in die Kammern geleitete Gas zu pumpen, indem man den Motor mit den Zugangsleitungen verband. Die Geschwindigkeit, mit der der Tod die hilflosen Opfer überwältigte, hing von der Menge des Heizgases [Kohlenmonoxid] ab, die man jeweils in die Kammer liess.

Die Maschinenanlagen wurden von zwei Ukrainern bedient. Einer von ihnen – Iwan – war gross und obwohl seine Augen freundlich und mild schienen, war er ein Sadist.[11] Es machte ihm Spass, seine Opfer zu foltern. Während der Arbeit stürzte er sich oft auf uns: Er nagelte unsere Ohren an die Wand, oder wir mussten uns auf den Boden legen, und er peitschte uns brutal aus. Während er das tat, spiegelte sich eine sadistische Befriedigung auf seinem Gesicht, und er lachte und scherzte. Je nach Laune konnte er die Opfer sofort töten. Der andere Ukrainer hiess Nikolay. Er hatte ein blasses Gesicht und die gleiche Mentalität wie Iwan.

An dem Tag, an dem ich zum ersten Mal sah, wie man Männer, Frauen und Kinder in das Todeshaus führte, wurde ich fast verrückt. Ich raufte mir die Haare aus und weinte bittere Tränen der Verzweiflung. Ich litt am meisten, wenn ich die Kinder sah, die von ihren Müttern begleitet wurden oder alleine liefen, völlig ahnungslos, dass ihnen in ein paar Minuten ihr Leben unter den schrecklichsten Qualen ausgetrieben würde. Ihre Augen glänzten vor Angst, aber mehr vielleicht noch vor Erstaunen. Es sah so aus, als ob die Frage: „Was ist das?“ oder „Was soll das alles bedeuten?“ auf ihren Lippen geschrieben stand. Aber da sie die versteinerten Mienen der Älteren sahen, passten sie ihr Verhalten den Gegebenheiten an. Sie standen entweder regungslos oder drückten sich dicht aneinander oder an ihre Eltern und erwarteten angespannt ihr fürchterliches Ende.

Plötzlich sprang die Eingangstür auf, und heraus kamen Iwan, der ein schweres Gasrohr in der Hand hielt, und Nikolay, der einen Säbel schwang. Auf ein bestimmtes Zeichen hin liessen sie die Opfer herein und schlugen sie grausam, während sie in die Kammer gingen. Das Kreischen der Frauen, das Weinen der Kinder, die Schreie aus Verzweiflung, das Jammern, das Flehen um Erbarmen, die Rufe nach Gottes Rache dröhnen mir bis heute in den Ohren – und verunmöglichen es mir, das gesehene Elend zu vergessen.

Zwischen 450 und 500 Personen wurden in eine Kammer gedrängt, die 25 Quadratmeter betrug. Eltern trugen ihre Kinder auf ihren Armen – in der vergeblichen Hoffnung, dass dies ihre Kinder vor dem Tod retten würde. Auf dem Weg in ihr Verderben wurden sie mit Gewehrkolben und mit Iwans Gasrohr gestossen und geschlagen. Man hetzte Hunde auf sie, die bellten, bissen und an ihnen zerrten. Um den Schlägen und den Hunden zu entkommen, stürmte die Menge in ihren Tod, drängte in die Kammer, die Stärkeren drückten die Schwächeren vor sich. Dieses Tollhaus dauerte nur kurze Zeit, und die Türen wurden bald zugeworfen und verschlossen. Die Kammer war gefüllt, der Motor wurde angestellt und mit den Eingangsleitungen verbunden, und innerhalb von höchstens 25 Minuten lagen alle tot da – oder um genauer zu sein: standen tot da. Da es keinen Zentimeter freien Platz gab, lehnten sie einfach nur gegeneinander.

Sie schrien nicht mehr, man hatte ihren Lebensfaden durchtrennt. Sie hatten keine Bedürfnisse oder Wünsche mehr. Sogar im Tod hielten die Mütter ihre Kinder noch fest im Arm. Es gab keine Freunde oder Feinde mehr. Keine Eifersucht. Alle waren gleich. Auch keine Schönheit oder Hässlichkeit, da sie alle gelb vom Gas waren. Es gab auch keine Reichen oder Armen mehr: Sie waren alle gleich vor Gottes Thron. Und warum das alles? Ich frage mich das immer noch. Mein Leben ist schwer, sehr schwer. Aber ich muss weiterleben, um der Welt von dieser Barbarei zu berichten.

Sobald die Vergasung beendet war, prüften Iwan und Nikolay die Resultate, gingen auf die andere Seite, öffneten die Tür, die zur Plattform herausführte und gingen dazu über, die Leichen herauszuziehen. Es war unsere Aufgabe, die Leichen zu den Gruben zu tragen. Wir waren todmüde, da wir den ganzen Tag auf der Baustelle gearbeitet hatten, aber niemand half uns, und wir hatten keine andere Wahl, als zu gehorchen. Wir hätten uns weigern können, aber das hätte ein Auspeitschen oder den Tod auf die gleiche oder sogar noch auf eine schlimmere Art bedeutet – so gehorchten wir, ohne zu murren.

Wir arbeiteten unter der Aufsicht eines Hauptmanns, einem mittelgrossen Mann mit Brille, dessen Namen ich nicht weiss. Er peitschte uns aus und schrie uns an. Er schlug mich ebenfalls ununterbrochen. Als ich ihn fragend anschaute, da hörte er einen Moment auf, mich zu schlagen und sagte: „Wenn du hier nicht der Zimmermann wärst, dann würde ich dich töten.“ Ich schaute mich um und sah, dass fast alle Arbeiter mein Schicksal teilten. Eine Hundemeute, dazu Deutsche und Ukrainer waren auf uns losgelassen worden. Fast ein Viertel der Arbeiter wurden getötet. Der Rest von uns warf ihre Körper ohne weitere Umstände in die Gruben. Zum Glück für mich entliess mich der Unterscharführer von dieser Arbeit, als der Hauptmann wegging.

Zwischen 10.000 und 12.000 Menschen wurden jeden Tag vergast. Wir bauten ein Schmalspurgleis und fuhren die Leichen auf einem Rollwagen in die Gruben.

Eines Abends wurden wir nach einem Tag harter Arbeit ins Lager Nr. 2 anstatt ins Lager Nr. 1 gebracht. Das Bild hier war ganz anders – ich werde das nie vergessen. Mein Blut gefror mir in den Adern. Der Hof war mit tausenden Leichen bedeckt, den Leichen der jüngsten Opfer. Deutsche und Ukrainer bellten Befehle und schlugen die Arbeiter brutal mit Gewehrkolben und Stöcken. Die Gesichter der Arbeiter waren blutig, ihre Augen schwarz unterlaufen und ihre Kleidung von Hunden zerfetzt. Ihre Aufpasser standen bei ihnen.

Ein einstöckiger Wachturm stand am Eingang zu Lager Nr. 2. Man stieg auf Leitern hinauf, und diese Leitern wurden dazu benutzt, einige der Opfer zu foltern. Man steckte die Beine zwischen die Sprossen, und der Aufpasser hielt den Kopf des Opfers auf so eine Weise nach unten, dass der arme Teufel sich nicht bewegen konnte, während er grausam bestraft wurde – das Strafminimum betrug 25 Peitschenhiebe. Ich beobachtete diese Szene das erste Mal abends. Der Mond und die Scheinwerfer warfen ein schauerliches Licht auf dieses fürchterliche Abschlachten der Lebenden, genauso wie auf die Leichen, die überall herumlagen. Das Stöhnen der Gefolterten mischte sich mit dem Knallen der Peitschenhiebe und machte einen Höllenlärm.

Als ich im Lager Nr. 2 ankam, war dort nur eine Baracke. Die Stockbetten hatte man noch nicht fertiggestellt. Auf dem Platz war eine Kantine. Ich sah dort eine Reihe Menschen, die ich aus Warschau kannte, aber sie hatten sich so verändert, dass es schwierig war sie wiederzuerkennen. Man hatte sie geschlagen, ausgehungert und misshandelt. Ich sah sie nicht sehr lange, da neue Gesichter und neue Freunde auftauchten. Es war ein endloses Kommen und Gehen und ein Tod ohne Ende. Ich lernte, jeden Menschen als potenzielle Leiche anzusehen. Ich begutachtete ihn mit meinen Augen und schätzte sein Gewicht ab und auch wer ihn zu seinem Grab trüge und wie schlimm man den Träger schlüge, während er jenen Körper zur Grube schleifte. Es war schrecklich, aber trotzdem war. Glauben Sie, dass ein menschliches Wesen unter solchen Bedingungen tatsächlich manchmal lächeln und scherzen konnte? Man gewöhnt sich an alles.

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Das deutsche System ist eines der effizientesten der Welt. Behörden stehen über Dienststellen, Abteilungen, Unterabteilungen. Und, was am wichtigsten ist: Immer ist der richtige Mann am richtigen Ort. Jedes Mal, wenn man Skrupellosigkeit, Entschlossenheit und die völlige Vernichtung „bösartiger und subversiver Elemente“ braucht, dann findet man gute Patrioten, die jeden Befehl ausführen. Man kann immer Menschen finden, die bereit sind, ihre Mitmenschen zu vernichten und zu töten. Bei ihnen sah ich nie Mitgefühl oder Bedauern. Sie hatten nie Erbarmen mit den unschuldigen Opfern. Sie waren Roboter, die ihre Aufgaben erfüllten, sobald ein höher Gestellter den Knopf drückte.

Solche Menschen-Hyänen finden immer ein weites Betätigungsfeld in Kriegszeiten und während Revolutionen. Für sie ist das Böse einfach und angenehmer als irgendetwas anderes.

Boshafte Typen lauern an verruchten Orten, wo sie ihrer subversiven Tätigkeit nachgehen. Jede Moral ist heute gegenstandslos geworden. Je bösartiger und lasterhafter jemand ist, desto höher wird seine Position sein. Beförderung hängt davon ab, wie viel jemand zerstört oder wie viele er umgebracht hat. Menschen, deren Hände vor Blut triefen. Das Blut unschuldiger Opfer schmeichelt ihnen, und sie haben es nicht nötig, ihre Hände zu waschen. Im Gegenteil, sie werden emporgehoben, damit ihnen die Welt Ehre erweisen kann. Je schmutziger das Gedächtnis oder die Hände einer Person sind, desto mehr wird ihr Besitzer gerühmt.

Ein weiterer, erstaunlicher Charakterzug der Deutschen ist ihre Fähigkeit, in der Bevölkerung anderer Nationen hunderte genauso degenerierter Typen, wie sie selbst zu entdecken und für ihre eigenen Ziele zu benutzen. In Lagern für Juden braucht man jüdische Henker, Spione und Lockvögel. Die Deutschen schafften es, solche zu finden: So schändliche Kreaturen wie Moyshke aus dem nahen Sochaczew, Itzik Kobyla aus Warschau, den Dieb Chaskel und Kuba (einen Dieb und Zuhälter) – beide in Warschau geboren und aufgewachsen.

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Das Bauwerk zwischen Lager Nr. 1 und Lager Nr. 2, an dem ich gearbeitet hatte, war innerhalb kürzester Zeit fertiggestellt. Es zeigte sich, dass wir zehn zusätzliche Gaskammern gebaut hatten, die mehr Platz als die alten hatten: 7×7 Meter oder gegen 50 Quadratmeter. Man konnte zwischen 1000 und 1200 Personen in eine Gaskammer drängen. Das Gebäude wurde gemäss dem Gangsystem angelegt, mit fünf Kammern auf jeder Seite des Korridors. Jede Kammer hatte zwei Türen: Eine Tür führte zum Korridor – durch diese wurden die Opfer aufgenommen. Die andere Tür lag gegenüber dem Lager und wurde dazu benutzt, die Leichen zu entfernen. Die Konstruktionsweise der Türen war genauso, wie die der Türen in den alten Kammern. Wenn man das Gebäude von Lager Nr. 1 sah, dann konnte man fünf breite Betonstufen mit Blumenkästen an  beiden Seiten erblicken. Dann kam ein langer Gang. Ein Davidstern war gegenüber dem Lager auf dem Dach angebracht, so dass das Gebäude wie eine altmodische Synagoge aussah. Als die Bauarbeiten beendet waren, sagte der Hauptsturmführer zu seinen Untergebenen: „Die Judenstadt ist endlich fertig.“

Die Arbeit an diesen Gaskammern dauerte fünf Wochen, die uns wie Jahrhunderte vorkamen. Wir mussten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in ständiger Angst vor Gewehrkolbenschlägen und Peitschenhieben arbeiten. Eine der Wachen – Woronkow – folterte uns brutal und tötete einige Arbeiter täglich. Obwohl unsere körperlichen Leiden die Vorstellung normaler Menschen überstiegen, waren unsere Seelenqualen viel schlimmer. Neue Opfertransporte kamen jeden Tag an. Ihnen wurde sofort befohlen, sich auszuziehen, und sie wurden zu den drei alten Gaskammern geführt und gingen dabei an uns vorbei. Viele von uns sahen ihre Kinder, Frauen und andere geliebte Menschen unter den Opfern. Aber sobald sich einer zu seinen Liebsten stürzte – von Verzweiflung getrieben – wurde er auf der Stelle getötet. Unter diesen Bedingungen bauten wir Todeskammern für unsere Brüder und für uns selber.

Das dauerte fünf Wochen. Nachdem die Arbeit an den Gaskammern beendet worden war, wurde ich ins Lager Nr. 1 zurückgeschickt, wo ich einen Friseurladen aufbauen musste. Bevor die Deutschen die Frauen töteten, schnitten sie ihnen die Haare ab und sammelten alles sorgfältig ein. Ich erfuhr nie zu welchem Zweck das geschah.[12]

Ich war weiterhin in Lager Nr. 2 untergebracht, aber da es nicht genug Handwerker gab wurde ich jeden Tag ins Lager Nr. 1 gebracht – eskortiert von Unterscharführer Hermann. Er war um die 50 Jahre alt, gross und freundlich. Er verstand uns, und wir taten ihm leid. Als er das erste Mal ins Lager Nr. 2 kam und die Haufen der Gasleichen sah wurde er bleich und schaute sie voller Entsetzen und Mitleid an. Er ging sofort mit mir weg, um die grausige Szene hinter sich zu lassen. Er behandelte uns Arbeiter sehr gut. Oft brachte er uns heimlich etwas Essen aus der Küche für die Deutschen mit. Es war so viel Güte in seinen Augen, dass man versucht war, ihm sein Herz auszuschütten, aber sprach nie mit den Häftlingen. Er hatte Angst vor seinen Kollegen. Aber alle seine Bewegungen und Handlungen zeigten einen aufrechten Charakter.

Während ich im Lager Nr. 1 arbeitete, kamen viele Transporte an. Jedes Mal, wenn ein neuer Transport ankam, wurden die Frauen und Kinder sofort in die Baracken gepfercht, während man die Männer auf dem Platz festhielt. Man befahl den Männern sich auszuziehen, während die Frauen naiv annahmen, dass sie nun Gelegenheit hätten, sich zu duschen und Handtücher und Seife aus dem Gepäck holten. Die brutalen Wachmänner schrien Befehle, ruhig zu sein und teilten Fusstritte und Schläge aus. Die Kinder weinten, die Erwachsenen stöhnten und schrien. Das machte alles nur schlimmer, und das Auspeitschen wurde noch grausamer.

Die Frauen und Mädchen wurden dann zum „Friseurladen“ gebracht, um ihr Haar abzuschneiden. Da waren sie sicher, dass man sie wegbrachte, um zu duschen. Dann wurden sie durch einen anderen Ausgang ins Lager Nr. 2 eskortiert, wo sie bei Frost nackt stehen und warten mussten, bis die Reihe an sie kam, um die Gaskammer zu  betreten, die man noch von der letzten Opferladung säuberte.

Diesen ganzen Winter über mussten kleine Kinder, splitternackt und barfuss stundenlang im Freien warten, bis sie an der Reihe waren, in die zunehmend ausgelasteten Gaskammern zu gelangen. Ihre Fusssohlen froren am eisigen Boden fest. Sie standen und weinten, manche von ihnen erfroren. In der Zwischenzeit liefen Deutsche und Ukrainer die Reihen entlang und schlugen und traten die Opfer.

Einer der Deutschen, ein Mann namens Sepp, war eine abscheuliche und primitive Bestie – es bereitete ihm ein besonderes Vergnügen, Kinder zu quälten. Wenn er Frauen hin und her stiess, und sie ihn anflehten aufzuhören, da sie Kinder bei sich hatten, dann riss er häufig ein Kind aus den Armen der Mutter und zerriss es entweder in zwei Teile, oder er packte es bei den Beinen und zerschmetterte seinen Kopf an einer Wand und warf den Körper weg. Solche Vorkommnisse waren keineswegs selten. Tragische Szenen dieser Art fanden die ganze Zeit statt.

Die Männer mussten viel schlimmere Qualen aushalten als die Frauen. Sie mussten sich auf dem Platz ausziehen, ein ordentliches Bündel aus ihrer Kleidung machen, dieses Bündel an eine angegebene Stelle bringen und auf einen Haufen legen. Dann mussten sie in die Baracke gehen, wo die Frauen sich ausgezogen hatten, ihre Kleidung heraustragen und richtig ordnen. Danach wurden sie aufgereiht, und die Gesündesten, Stärksten und am besten Gebauten wurden geschlagen, bis ihr Blut in Strömen floss.

Als nächstes mussten alle Männer und Frauen, Alte und Kinder in einer Reihe von Lager Nr. 1 zu den Gaskammern in Lager Nr. 2 weitergehen. Auf dem Weg dort, der zu den Kammern führte, stand eine Bretterbude, in der ein Beamter sass und den Menschen befahl, ihre ganzen Wertsachen abzugeben. Die unglücklichen Opfer – in ihrer Wahnvorstellung, dass sie am Leben blieben – versuchten zu verstecken, was sie konnten. Aber den deutschen Teufeln gelang es, alles zu finden. Wenn sie es nicht bei den Lebenden fanden, dann später bei den Toten. Jeder, der sich der Bude näherte, musste seine Arme hochheben, und so ging die ganze makabre Prozession mit hochgehobenen Armen schweigend vorbei in die Gaskammern.

Ein Jude war von den Deutschen ausgewählt worden, um den Bademeister zu spielen. Er stand am Eingang des Gebäudes mit den Gaskammern und drängte alle, schnell hineinzugehen, bevor das Wasser kalt werde. Was für ein Hohn! Unter Schreiben und Schlägen wurden die Menschen in die Kammern gejagt.

Wie ich schon bemerkt habe, gab es nicht viel Platz in den Gaskammern. Die Menschen erstickten einfach durch die Überbelegung. Der Motor, der das Gas für die neuen Kammern erzeugte, funktionierte nicht richtig, und so mussten die hilflosen Opfer stundenlang leiden, bevor sie starben. Satan selbst hätte sich keine teuflischere Methode ausdenken können. Als man die Kammern wieder öffnete, waren viele der Opfer nur halbtot und mussten mit Gewehrkolben, durch Kugeln oder schwere Tritte getötet werden.

Häufig wurden Menschen die ganze Nacht in den Gaskammern gelassen, ohne den Motor anzustellen. Überbelegung und Luftmangel tötete viele von ihnen auf eine äussert schmerzhafte Art. Jedoch überlebten viele diese nächtlichen Torturen – vor allem die Kinder waren auffallend widerstandsfähig. Sie waren noch am Leben, als man sie am Morgen aus den Kammern zog, aber die Deutschen machten mit Revolvern kurzen Prozess mit ihnen.

Die deutschen Unmenschen waren besonders erfreut, wenn Opfertransporte aus dem Ausland ankamen. Solche Deportationen riefen dort vermutlich grossen Unmut hervor. Damit kein Verdacht aufkam, was die Deportierten erwartete, transportierte man die ausländischen Opfer in Passagierzügen und erlaubte ihnen, alles mitzunehmen, was sie brauchten. Diese Menschen waren gut angezogen und brachten erhebliche Mengen an Lebensmitteln und Gebrauchskleidung mit. Während der Reise wurden sie bedient und hatten sogar einen Speisewagen in den Zügen. Aber bei ihrer Ankunft in Treblinka wurden sie mit den nackten Tatsachen konfrontiert. Sie wurden aus den Zügen gezogen und der gleichen Prozedur wie oben beschrieben unterzogen. Am nächsten Tag waren sie vom Ort des Geschehens verschwunden – es blieben nur ihre Kleidung, ihre Lebensmittelvorräte und die makabre Aufgabe, sie zu begraben.

Die Zahl der Transporte wurde jeden Tag grösser: In manchen Zeiten wurden bis zu 30.000 Menschen an einem Tag vergast, und alle 13 Gaskammern waren in Betrieb. Die Rufe, die Schreie und das Stöhnen nahmen kein Ende. An Tagen, an denen diese Transporte ankamen, konnten alle, die man am Leben gelassen hatte, um die Arbeit in den Lagern zu erledigen, weder essen noch aufhören zu weinen. Die weniger Widerstandsfähigen unter uns (vor allem die Intelligenteren) erlitten Nervenzusammenbrüche und erhängten sich nach der Rückkehr in die Baracken in der Nacht – nachdem sie den ganzen Tag Leichen herumgetragen hatten, und in ihren Ohren noch die Schreie und das Stöhnen der Opfer hallten. Täglich gab es zwischen 15 und 20 solcher Selbstmorde.

Diese Menschen waren nicht in der Lage, die von den Aufpassern und Deutschen ausgehenden Misshandlungen und die ihnen zugefügten Qualen auszuhalten.

Eines Tages kam ein Zug aus Warschau an, aus dem einige Männer als Arbeiter für Lager Nr. 2 selektiert wurden. Unter ihnen sah ich ein paar Menschen, die ich aus der Zeit vor dem Krieg kannte. Sie waren für diese Arbeit nicht geeignet.

Am gleichen Tag konnte einer unserer Männer namens Kuszer die Folter nicht aushalten und attackierte seinen Peiniger, einen deutschen Oberscharführer namens Matthes aus Lager Nr. 2, der eine Bestie und ein Mörder war, und verletzte ihn. Der Hauptsturmführer, der am Ort des Geschehens ankam, schickte alle Handwerker fort, und die anderen Lagerhäftlinge wurden an Ort und Stelle mit stumpfen Werkzeugen massakriert.

Einmal arbeitete ich im Wald zwischen beiden Lagern und bereitete Holz zu. Nackte Kinder, Männer und alte Menschen zogen an diesem Ort in einer schweigenden Karawane des Todes vorbei. Die einzigen Geräusche, die wir hörten, waren die Schreie der Mörder – die Opfer liefen schweigend. Ab und zu wimmerte ein Kind, aber dann griffen die Finger eines Mörders seinen dünnen Nacken wie ein Schraubstock und würgten die letzten klagenden Seufzer ab. Die Opfer gingen in ihr Verderben, mit erhobenen Armen, splitternackt und hilflos.

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Zwischen den beiden Lagern waren Gebäude, in denen die Ukrainer untergebracht waren. Die Ukrainer waren ständig betrunken und verkaufen alles, was sie im Lager stehlen konnten, um mehr Geld für Schnaps zu haben. Die Deutschen beobachteten sie, und oft nahmen sie ihnen das Geraubte weg.

Wenn sich die Ukrainer mit Essen vollgestopft und genug getrunken hatten, dann suchten sie sich andere Vergnügungen. Oft selektierten sie die am besten aussehenden jüdischen Mädchen aus den Transporten der nackten Frauen, die an ihren Unterkünften vorbeigingen, zerrten sie in ihre Baracken, vergewaltigten sie und brachten sie dann in die Gaskammern. Nachdem ihre Henker sie so entehrt hatten, starben sie mit dem ganzen Rest in den Gaskammern. Es war ein Märtyrertod.

Einmal rannte ein Mädchen aus der Reihe. Nackt übersprang sie den drei Meter hohen Stacheldrahtzaun und versuchte in unsere Richtung zu entkommen. Die Ukrainer bemerkten das und fingen an, sie zu verfolgen. Einer von ihnen erreichte sie fast, aber er kam ihr zu nah, um zu schiessen, und sie wand ihm das Gewehr aus der Hand. Es war nicht einfach, das Feuer zu eröffnen, weil überall Wachmänner waren, und die Gefahr bestand, dass einer der Wachmänner getroffen werden konnte. Aber als das Mädchen das Gewehr hielt, löste sich ein Schuss und tötete einen der Ukrainer. Die Ukrainer wurden rasend vor Wut. In ihrem Zorn kämpfte das Mädchen mit dessen Kameraden. Sie konnte nochmals einen Schuss abgeben, der einen anderen Ukrainer traf, dessen Arm dann amputiert werden musste. Schliesslich ergriffen sie sie. Sie bezahlte teuer für ihren Mut. Sie wurde grün und blau geschlagen, angespien, getreten und am Ende getötet. Sie war unsere namenlose Heldin.

Ein anderes Mal kam ein Transport aus Deutschland an. Die Neuankömmlinge durchliefen die übliche Prozedur. Als man den Menschen befahl, sich auszuziehen, trat eine der Frauen mit ihren beiden Kindern vor (beides Jungen). Sie präsentierte ihre Ausweispapiere, die bezeugten, dass ihr Blut rein deutsch war –  sie hatte den Zug versehentlich bestiegen. Alle ihre Dokumente waren in Ordnung und ihre beiden Söhne nicht beschnitten. Sie war eine gutaussehende Frau, aber es war Grauen in ihren Augen. Sie klammerte ihre Kinder an sich, versuchte sie zu beruhigen und sagte ihnen, dass ihre Probleme bald gelöst seien und sie nach Hause zu ihrem Vater zurückkehren. Sie streichelte und küsste sie – aber sie weinte, weil sie eine schreckliche Vorahnung gepackt hatte.

Die Deutschen befahlen ihr, vorzutreten. Sie dachte, dass das die Freiheit für ihre Kinder und für sie selber bedeute und entspannte sich. Aber leider hatte man entschieden, dass sie mit den Juden zugrunde gehen müsse, weil sie zu viel gesehen habe und sich verpflichtet fühlen könne, alles Gesehene zu erzählen – aber man musste alles geheim halten. Jeder, der die Schwelle zum Lager Treblinka überschritten hatte, war zum Tod verurteilt. Daher ging diese deutsche Frau mit ihren Kindern mit all den anderen in den Tod. Ihre Kinder weinten genauso, wie die jüdischen Kinder, und ihre Augen spiegelten die gleiche Verzweiflung – im Tod gibt es keine Rassenunterschiede, hier sind alle gleich. Ihr Mann würde vielleicht an der Front getötet werden, und sie starb im Lager.

Während ich im Lager Nr. 1 war, gelang es mir, die Identität einiger der Juden herauszufinden, die ich mit den gelben Flecken auf ihrer Kleidung gesehen hatte. Es zeigte sich, dass es von früheren Transporten übriggebliebene Fachmänner und Handwerker waren. Sie hatten Treblinka gebaut. Sie hatten gehofft, dass man sie nach dem Krieg freiliesse – aber das Schicksal entschied es anders. Man hatte beschlossen, dass jeder, der diese Höllenpforte überschritten hatte, sterben musste. Man durfte keine Zeugen haben, die in der Lage wären, den Ort zu bezeichnen, wo man diese teuflischen Verbrechen beging.[13]

Unter diesen Männern waren Juweliere, die die von den Deportierten mitgebrachten Gegenstände aus Edelmetall begutachteten. Es war ziemlich viel davon da. Die Sortierung und Bewertung wurde in einer separaten Baracke gemacht, bei der keine besondere Wache stand, da es keinen Grund für die Annahme gab, dass einer dieser Männer imstande sei, etwas  zu stehlen. Denn wo würden sie ihr Raubgut absetzen? Letztendlich würde alles, was sie schafften zu stehlen, nur wieder bei den Deutschen landen.

Die Ukrainer wurden jedoch beim Anblick von Gold ganz wild. Sie hatten keine Ahnung, was es wert war – es langte, ihnen etwas zu geben, das glänzte und ihnen zu sagen, dass es Gold sei. Wenn Deportationen stattfanden, dann brachen die Ukrainer in die Unterkünfte der Juden ein und verlangten Gold. Sie machten das, ohne dass die Deutschen davon wussten, und natürlich wandten sie Terrormethoden an. Sie nahmen alles, was man ihnen gab. Ihre Gesichter waren voller Gier und Grausamkeit und riefen Angst und Ekel bei denjenigen hervor, die mit ihnen zu tun hatten. Sie versteckten ihre Beute sehr sorgfältig, damit sie ihren Familien etwas als Kriegsbeute vorweisen konnten. Einige der Ukrainer kamen aus den angrenzenden Dörfern – andere hatten Freundinnen in der Nähe und wollten ihnen Geschenke machen. Ein Teil des Geplünderten wurde immer in Alkoholika umgetauscht. Sie waren schreckliche Trunkenbolde.

Als die Ukrainer bemerkten, dass die Juden praktisch ohne Aufsicht mit dem Gold hantierten, zwangen sie diese zu stehlen. Die Juden wurden genötigt, Diamanten und Gold an die ukrainischen Wachmänner abzuliefern oder bei Nichterfüllung getötet zu werden. Tag für Tag nahm eine Bande Ukrainer Wertgegenstände aus dem Raum, wo die Wertsachen der Deportierten aufbewahrt wurden. Einer der Deutschen bemerkte dies, und natürlich mussten die Juden dafür bezahlen. Man durchsuchte sie, und die Durchsuchung zeigte, dass sie Gold und Edelsteine bei sich hatten. Sie konnten nicht behaupten, dass sie diese Dinge unter Zwang gestohlen hatten – die Deutschen hätten ihre Geschichte nicht geglaubt. Sie wurden gefoltert, und jetzt waren sie schlimmer dran als die Lagerarbeiter. Nur die Hälfte von ihnen blieb am Leben (es waren 150 gewesen). Diejenigen, die überlebten, mussten Entkräftung, Elend und unglaubliche Folterungen aushalten.

Auf dem ganzen Lagerplatz war eine Unmenge von Dingen verstreut, da all diese Menschen tausende von Gegenständen, Kleidung und so weiter zurückgelassen hatten. Da sie alle angenommen hatten, dass man sie nur an einen unbekannten Ort aussiedeln und nicht in den Tod schicke, hatten sie ihren wertvollsten und den unbedingt nötigen Besitz mitgenommen. Der Lagerplatz von Treblinka war mit allem gefüllt, was jemandes Herz begehren konnte. Von allem war genug da. Als ich vorüberging, sah ich eine Unmenge von Füllfederhaltern, Schwarztee und Kaffee. Der Boden war buchstäblich übersät mit Süssigkeiten. Menschentransporte aus dem Ausland hatten sich gut mit Fettvorräten eingedeckt. Alle Deportierten waren völlig sicher gewesen, dass sie überleben werden.

Juden wurden dafür eingesetzt, die Beute zu sortieren und die Dinge systematisch zu ordnen, da jeder Gegenstand einem bestimmten Zweck diente. Alles, was die Juden zurückliessen, hatte seinen Wert und seine Bestimmung. Nur die Juden selber wurden als wertlos angesehen. Juden mussten stehlen, was sie konnten und die gestohlenen Dinge den Ukrainern übergeben. Wenn sie das nicht taten, dann wurden sie von den Ukrainern getötet. Wenn man aber die Juden auf frischer Tat ertappte, dann wurden sie auf der Stelle getötet. Trotz der Gefahr ging das Geschäft weiter, und ein neuer Komplize machte dort weiter, wo der vorherige aufgehört hatte. Auf diese Weise überlebten einige wenige Auserwählte aus Millionen –zwischen Hölle und Fegefeuer.

Eines Tages kam ein Transport von 80 Zigeunern aus der Nähe von Warschau an. Diese Männer, Frauen und Kinder waren bettelarm. Sie besassen nur dreckige Unterwäsche und Lumpen. Als sie auf den Platz kamen, waren sie sehr glücklich. Sie dachten, dass sie ein verzaubertes Schloss betreten hatten. Aber die Henker waren ebenfalls glücklich, da sie alle Zigeuner genauso auslöschten wie die Juden. Innerhalb von ein paar Stunden war alles ruhig, und nur Leichen waren übrig.

Ich arbeitete immer noch in Lager Nr. 1, und ich konnte mich so frei bewegen, wie es mir gefiel. Obwohl ich dort viele schreckliche Dinge sah, war der Anblick der Vergasten im Lager Nr. 2 viel fürchterlicher.

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Man entschied, dass ich praktisch im Lager Nr. 1 bleiben sollte. Hermann – der Architekt – und ein Möbelschreinermeister aus Böhmen taten was sie konnten, um dieses Ziel zu erreichen. Sie hatten keinen anderen Handwerker, der vergleichbare Fähigkeiten hatte wie ich, und brauchten mich daher. Jedoch kam Mitte Dezember 1942 der Befehl, dass alle Häftlinge aus Lager Nr. 2 dorthin zurückkehren sollten. Da man diesen Befehl nicht anfechten konnte, gingen wir in Lager Nr. 2 und warten sogar nicht auf unser Mittagessen.

Das Erste, was ich nach meiner Rückkehr sah, waren Leichen von neu vergasten Opfern, an denen sich „Zahnärzte“ zu schaffen gemacht hatten – sie hatten ihre künstlichen Zähne mit Zangen entfernt. Nur ein Blick auf diese grauenhafte Prozedur reichte, um das Leben noch mehr zu verabscheuen als zuvor. Die „Zahnärzte“ sortierten die herausgenommenen Zähne ihrem Wert entsprechend. Es versteht sich von selber, dass die Ukrainer alle Zähne, denen sie habhaft werden konnten, in ihren Besitz nahmen.

Ich arbeitete für eine Zeitlang im Lager Nr. 2, um in der Küche Reparaturen auszuführen. Der Befehlshaber der Küche hatte ein neues System eingeführt. In diesem Zeitraum kamen weniger Transporte an, und weniger neue Arbeiter waren greifbar. In dieser Zeit gab man den Arbeitern in Lager Nr. 1 Nummern und dreieckige Kennmarken aus Leder. Für jede Gruppe hatte man einen unterschiedlich farbigen Flicken. Die Abzeichen wurden auf der linken Brustseite getragen. Es gab Gerüchte, dass wir Arbeiter in Lager Nr. 2 auch Nummern bekommen sollten, aber zu diesem Zeitpunkt kam nichts. Auf jeden Fall war ein System eingeführt worden, so dass sich kein Fremder aus einem ankommenden Transport hineinschmuggeln konnte, um sein Leben zu verlängern – so wie ich es getan hatte.

Wir begannen, sehr an der Kälte zu leiden, und sie verteilten Decken an uns. Während ich nicht in Lager Nr. 2 gearbeitet hatte, war dort eine Tischlerei errichtet worden. Ein Bäcker aus Warschau fungierte als Vorarbeiter. Seine Arbeit war es, Bahren zu machen, um die Leichen von den Gaskammern zu den Massengräbern zu tragen. Die Bahren waren sehr primitiv konstruiert – es waren nur zwei Pfähle, an die in wenigen Abständen Bretterstücke genagelt waren. Der Hauptsturmführer und die zwei Kommandanten befahlen mir, eine Wäscherei zu bauen, ein Labor und Unterkünfte für 15 Frauen. Die Gebäude sollten ganz aus altem Material gebaut werden. Von Juden bewohnte Gebäude aus der Nachbarschaft wurden zu der Zeit auseinandergenommen. Ich konnte das aufgrund der Hausnummern erkennen. Ich bildete meine Mannschaft und fing zu arbeiten an. Ich brachte einiges des benötigten Bauholzes aus dem Wald selber her. Bei der Arbeit verging die Zeit schnell.

Aber da waren neue Ereignisse, die uns emotional aus der Bahn warfen. Dies war die Periode, in der die Deutschen über Katyn sprachen – das sie für anti-sowjetische Propaganda missbrauchten.[14] Eines Tages fiel uns zufällig eine Zeitung in die Hände, aus der wir vom Massenmord erfuhren. Vielleicht waren es diese Berichte, die dazu führten, dass Himmler persönlich Treblinka besuchte und befahl, dass von nun an alle Körper der Häftlinge verbrannt werden sollten. Es gab eine Menge Leichen zu verbrennen. Es gab niemand sonst als die Deutschen, die für die Treblinka-Morde verantwortlich gemacht werden konnten, denn sie waren vorerst die Herren des Landes, das sie uns mit brutaler Gewalt entrissen hatten. Sie wollten keinen Beweis für die Massenmorde zurücklassen.

Jedenfalls wurden die Verbrennungen unverzüglich begonnen. Die Leichen der Männer, Frauen, Kinder und alter Menschen wurden aus den Massengräbern ausgegraben. Immer, wenn man so ein Grab öffnete, entwich daraus ein schrecklich übler Geruch, da sich die Körper schon in einem fortgeschrittenen Stadium der Verwesung befanden. Diejenigen, die man zwang diese Arbeit zu machen, litten ununterbrochen – körperlich und moralisch. Uns, die Lebenden, befiel eine erneute Trauer, die noch viel intensiver war als die vorher. Wir hatten kaum zu essen, weil keine Transporte mehr ankamen – und die unglückseligen Essenslieferanten waren Vergangenheit. Es ging uns wohl oder übel an die Reserven. Wir assen nur schimmliges Brot und spülten es mit Wasser herunter. Die Unterernährung hatte eine Fleckfieber-Epidemie zur Folge.[15] Diejenigen, die krank wurden, brauchten weder Medikamente noch ein Bett. Eine Kugel in den Hinterkopf – und alles war vorbei.

Man begann mit der Arbeit, die Toten zu verbrennen. Es zeigte sich, dass die Körper der Frauen leichter brannten als die der Männer. Also benutzte man die Körper der Frauen, um die Feuer anzufachen. Da die Verbrennung harte Arbeit war, entstand ein Wettbewerb zwischen den Arbeitseinheiten darüber, wer in der Lage war, die höchste Anzahl Körper zu verbrennen. Man stellte Anschlagtafeln auf und notierte die Anzahl eines Tages. Jedoch waren die Resultate kümmerlich. Die Leichen wurden in Benzin getaucht. Das bedingte erhebliche Kosten, und die Ergebnisse waren nicht ausreichend – die Leichen der Männer brannten einfach nicht. Immer, wenn ein Flugzeug am Himmel auftauchte, stoppte die ganze Arbeit, und die Leichen wurden mit Laub getarnt, damit man aus der Luft nichts sehen konnte.

Es war ein entsetzlicher Anblick, der grauenvollste für das menschliches Auge. Wenn man Leichen schwangerer Frauen verbrannte, dann explodierten ihre Bäuche. Der Fötus wurde blossgelegt und man konnte sehen, wie er im Mutterleib brannte.

Aber all das machte keinen Eindruck auf die deutschen Mörder, die herumstanden und so schauten, als ob sie eine Maschine prüften, die nicht richtig funktionierte und dessen Produktion unzureichend war.

Dann kam eines Tages ein Oberscharführer mit einem SS-Abzeichen im Lager an und veranstaltete ein wahres Inferno. Er war gegen 45 Jahre alt, mittelgross und hatte ein ununterbrochenes Lächeln auf seinem Gesicht. Sein Lieblingswort war „tadellos“. So nannte man ihn „Tadellos“. Sein Gesicht sah freundlich aus und spiegelte die darunterliegende entartete Seele nicht. Es bereite ihm grosse Lust, die Leichen brennen zu sehen; der Anblick der Flammen, die an den Körpern leckten, war herrlich, und die Szenerie ergötzte ihn.

So begann er das Inferno: Er setzte eine Maschine zum Ausgraben der Leichen in Betrieb – einen Bagger, der am Tag bis zu 3000 Leichen ausheben konnte. Ein Feuerrost aus Bahngleisen wurde auf ein Betonfundament gesetzt, das 100 bis 150 Meter lang war. Die Arbeiter schichteten die Leichten auf dem Rost auf und zündeten sie an.

Ich bin kein junger Mann mehr[16], und ich habe ziemlich viel in meinem Leben gesehen, aber nicht einmal Luzifer hätte eine schlimmere Hölle als diese erschaffen können. Können Sie sich ein Rost dieser Länge mit 3000 Leichen darauf vorstellen? Menschen, die vor Kurzem noch gelebt haben? Wenn Sie in ihre Gesichter blicken, dann sieht es so aus, als ob diese Körper jeden Moment aus ihrem tiefen Schlaf erwachen können. Aber auf ein bestimmtes Signal zündet man eine riesige Fackel an, und sie brennt mit einer gewaltigen Flamme. Wenn Sie nahe genug stehen, dann können sie sich vorstellen, wie ein Jammern aus den Mündern der schlafenden Körper dringt, die Kinder sich aufrichten und nach ihren Müttern schreien. Sie sind überwältigt vom Schrecken und dem Schmerz, aber Sie stehen einfach nur da und sagen nichts. Und die Gangster stehen mit einem satanischen Lachen bei der Asche. In ihren Gesichtern ist eine wahrhaft teuflische Befriedigung. Sie stossen mit Brandy und anderen ausgewählten Alkoholika an, essen, zechen, amüsieren sich und wärmen sich am Feuer.

So waren die Juden nach ihrem Tod für sie doch zu etwas Nutze. Obwohl das Wetter im Winter bitterkalt war, gaben die Scheiterhaufen eine Wärme wie ein Ofen ab. Diese Hitze kam von den brennenden Körpern der Juden. Die Henker standen am Feuer, um sich zu wärmen, tranken, assen und sangen. Langsam fiel das Feuer in sich zusammen, und nur Asche blieb zurück, die den schweigsamen Boden düngte. Menschliches Blut und menschliche Asche – was für eine Mahlzeit für den Boden. Es wird eine reiche Ernte geben. Wenn bloss der Boden sprechen könnte! Er weiss viel, aber er bleibt ruhig.

Tag für Tag hievten die Arbeiter Leichen und brachen vor körperlicher Erschöpfung und Seelenqualen zusammen. Während sie litten, erfüllte die Herzen der Unmenschen Stolz und Freude in dieser von ihnen geschaffenen Hölle. Sie leuchtete und wärmte, und gleichzeitig löschte sie jede Spur der Opfer aus während unsere Herzen dabei bluteten. Der Oberscharführer, der dieses Inferno geschaffen hatte, sass am Feuer, lachte, seine Augen ergötzten sich daran, und er sagte: „tadellos!“ Für ihn bedeuteten die Flammen die Erfüllung seiner perversen Träume und Wünsche.

Die Verbrennung der Leichen erwies sich als ein grosser Erfolg. Weil sie sich beeilen mussten, bauten die Deutschen weitere Feuerroste und erhöhten die Bedienungsmannschaften, so dass man an einem Tag zwischen 10.000 und 12.000 Leichen verbrennen konnte. Das Ergebnis war ein gewaltiges Inferno, das aus der Distanz wie ein Vulkan aussah, der durch die Erdkruste brach, um Feuer und Lava auszuspucken. Die Scheiterhaufen knisterten und knallten. Wegen dem Rauch und dem Feuer war es unmöglich, daneben zu stehen. Das alles dauerte sehr lange, da man mehr als eine halbe Million Tote beseitigen musste.

Die neuen Transporte wurden auf eine vereinfachte Art behandelt: direkt nach der Vergasung erfolgte die Verbrennung. Nun kamen Transporte aus Bulgarien mit wohlhabenden Menschen an – sie brachten grosse Lebensmittelvorräte mit: Weissbrot, geräuchertes Hammelfleisch, Käse etc. Sie wurden genauso wie die anderen getötet, aber wir profitierten von den Vorräten, die sie mitgebracht hatten. Als Folge verbesserte sich unsere Ernährung beträchtlich. Die bulgarischen Juden waren starker und stämmiger Natur. Wenn man sie ansah, dann war es schwer zu glauben, dass sie in 20 Minuten alle tot in den Gaskammern sein würden.

Diesen attraktiven Juden erlaubte man nicht, schnell zu sterben. Man liess nur wenig Gas in die Kammern, und ihr Todeskampf dauerte die ganze Nacht. Sie wurden ausserdem schwer gefoltert, bevor sie in die Gaskammern kamen. Der Neid auf ihr wohlgenährtes Äusseres trieb die Henker dazu, sie nur noch mehr zu foltern.

Nach den bulgarischen Transporten kamen noch mehr Transporte aus Białystock und Grodno. In der Zwischenzeit hatte ich den Bau des Labors, der Wäscherei und der Frauenunterkünfte beendet.

Eines Tages erreichte ein Transport Treblinka, als wir bereits in unseren Baracken für die Nacht eingeschlossen waren. Demzufolge fertigten die Deutschen und die Ukrainer die Opfer ohne Hilfe ab. Plötzlich hörten wir Geschrei und schweres Gewehrfeuer. Wir rührten uns nicht vom Fleck und warteten ungeduldig, bis der Morgen anbrach, damit wir erfuhren, was geschehen war. Am nächsten Morgen sahen wir, dass der Platz mit Leichen übersät war. Während wir arbeiteten, erzählten uns die ukrainischen Wachmänner, dass sich die Menschen, die mit diesem Transport gekommen waren, weigerten in die Gaskammern geführt zu werden und ihnen einen erbitterten Kampf lieferten. Sie zerschmetterten alles, was sie in die Hände bekamen, und zerbrachen die Goldtruhen, die im Korridor standen, der zu den Kammern führte. Sie ergriffen Stöcke und jede Waffe, die sie ergattern konnten, um sich zu verteidigen. Die Schüsse fielen ohne Pause, und am Morgen war der Platz mit toten Körpern und mit den improvisierten Waffen bedeckt, die die Juden in ihrem letzten Kampf um ihr Leben verwendet hatten. Diejenigen, die im Kampf fielen, waren genauso wie die im Gas Gestorbenen fürchterlich verstümmelt. Machen hatte man Gliedmasse von ihren Körpern gerissen. Bei Morgengrauen war alles vorbei. Die Rebellen wurden verbrannt. Für uns war es nur ein weiterer Hinweis darauf, dass wir nicht darauf hoffen konnten, unserem Schicksal zu entkommen.

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Zu diesem Zeitpunkt wurde die Disziplin im Lager strenger. Man baute ein Wachhaus, die Anzahl der Wachen stieg, und man richtete eine Telefonleitung in Lager Nr. 2 ein. Uns mangelte es an Arbeitskräften, und so schickte man Männer aus Lager Nr. 1. Aber man fand, dass ihre Arbeit mangelhaft sei und tötete sie ein paar Tage später. Da sie so schlechtes Arbeitsmaterial waren, war es schade um das Essen, das sie am Leben erhalten sollte.

Der Scharführer (ein deutscher Schreinermeister aus Böhmen), den ich bereits erwähnt habe, kam zu mir, um sich beraten zu lassen wie er einen vierstöckigen Beobachtungsturm bauen konnte – vom Typ, den er in Majdanek [ein weiteres KZ bei Lublin] gesehen hatte. Er war sehr erfreut, als ich ihn alle erforderlichen Informationen gab und reichte mir zum Lohn etwas Brot und Wurst. Ich ermittelte die Anforderungen an das Holz und die Schrauben und fuhr mit dem Bau fort. Immer, wenn ich mit einer neuen Arbeit begann, dann wusste ich, dass man mir gestattete einige Wochen länger zu leben – solange sie mich brauchten, würden sie mich nicht töten.

Als ich den ersten Turm fertiggestellt hatte, kam der Hauptsturmführer und lobte mich über alle Massen und befahl mir, drei weitere Türme des gleichen Typs um das Lager Nr. 2 herum zu bauen.

Man erhöhte die Lagerwachen, und es war nicht mehr möglich, von einem Lager in das andere zu gelangen. Sieben Männer taten sich zusammen, um einen Tunnel zu graben, durch den sie flüchten wollten.[17] Vier von ihnen wurden gefasst und einen ganzen Tag lang gefoltert, was viel schlimmer als der Tod war. Als am Abend alle Arbeiter von der Arbeit zurück waren, befahl man allen Häftlingen, sich zu versammeln und Zeuge zu sein, wie die vier Männer aufgehängt wurden. Bevor die Schlinge um seinen Hals festgezogen wurde, schrie einer von ihnen (ein Jude aus Warschau namens Mechel): „Nieder mit Hitler! Lang leben die Juden!“

Unter unseren Arbeitern waren einige sehr religiös, die jeden Tag ihre Gebete sprachen. Ein Deutscher namens Karol, der stellvertretender Kommandant und ein Zyniker war, beobachtete die Gewohnheit dieser kleinen Gruppe und machte Witze darüber. Er gab ihnen sogar einen Gebetsschal und Gebetsriemen für ihre Andacht, und als einer der Männer starb, gab er die Erlaubnis für ein traditionelles jüdisches Begräbnis, inklusive Grabstein. Ich riet den Männern, das nicht zu tun, denn unsere Peiniger würden den Körper ausgraben und verbrennen, nachdem sie sich bei Zeremonie amüsiert hatten. Sie wollten meinem Rat nicht folgen, fanden aber bald heraus, dass ich recht gehabt hatte.

Im April 1943 kamen Transporte aus Warschau.[18] Man sagte uns, dass 600 Männer aus Warschau im Lager Nr. 1 arbeiteten. Dieser Bericht stellte sich als wahr heraus. Zu der Zeit wütete eine Fleckfieber-Epidemie im Lager Nr. 1. Diejenigen, die krank wurden, tötete man. Drei Frauen und ein Mann aus dem Warschau-Transport kamen zu uns. Der Mann war der Ehemann einer der Frauen. Die Leute aus Warschau wurden aussergewöhnlich brutal behandelt, die Frauen noch schlimmer als die Männer. Frauen mit Kindern wurden von den anderen getrennt, zu den Feuern geführt und – nachdem die Mörder genug vom Anblick der vom Grauen erfassten Frauen und Kinder hatten – direkt am Feuerrost von ihnen getötet und in die Flammen geworfen. Das geschah sehr oft. Die Frauen wurden vor Angst ohnmächtig und die Wüstlinge zogen sie halbtot zum Feuer. Voller Panik klammerten sich die Kinder an ihren Müttern fest. Die Frauen bettelten um Erbarmen – mit geschlossenen Augen, um sich vom grausigen Schauplatz abzugrenzen, aber ihre Peiniger grinsten sie nur an und liessen ihre Opfer minutenlang in qualvoller Ungewissheit. Während man einige Frauen und Kinder tötete, liess man andere wartend stehen, bis sie an die Reihe kamen. Immer wieder riss man Kinder aus den Armen ihrer Mütter und warf sie lebend in die Flammen – dabei lachten die Peiniger und feuerten die Mütter an, mutig zu sein und ihren Kindern in die Flammen hinterher zu springen und machten sich über die Frauen lustig, dass sie Feiglinge seien.

Einige Männer aus Lager Nr. 1 wurden in unser Lager als Arbeiter geschickt. Sie waren eingeschüchtert und hatten Angst, mit uns zu sprechen – Lager Nr. 1 war für strikte Disziplin bekannt. Nach einer Weile beruhigten sich diese Männer jedoch und gaben uns zu verstehen, dass man in Lager Nr. 1 einen Aufstand plane. Wir wollten mit den Häftlingen aus Lager Nr. 1 in Kontakt treten, aber wir hatten keine Gelegenheit dazu, weil überall Wachtürme und Wachmänner waren. Das Essen in unserem Lager war besser geworden. Einmal pro Woche konnten wir duschen und bekamen sogar frische Bettwäsche, und man hatte eine Wäscherei eingerichtet, in der weibliche Häftlinge arbeiteten. Wir entschieden, dass wir im Frühling versuchen mussten, zu fliehen oder hier umkommen würden.

Ungefähr zu der Zeit bekam ich eine Erkältung, die sich zu einer Lungenentzündung entwickelte. Alle Kranken wurden getötet – entweder durch Schüsse oder Injektionen, aber es sah so aus, als ob sie mich brauchten. Folglich versorgten sie mich medizinisch so, wie es möglich war. Ein jüdischer Arzt schaute nach mir, untersuchte mich jeden Tag und gab mir Medikamente und spendete Trost. Mein deutscher Vorgesetzter Löffler[19] brachte mir zu essen: Weissbrot, Butter und Rahm. Jedes Mal, wenn er Essen von den Schmugglern konfiszierte, teilte er es mit mir. Das warme Frühlingswetter, der Lebensdrang und die medizinische Versorgung, die ich bekam, taten das ihre, und trotz dem unglaublichen Elend, in dem ich lebte, wurde ich wieder gesund. Ich ging zurück an die Arbeit, um den Bau der Wachtürme zu beenden.

Eines Tages kam der Hauptsturmführer zusammen mit dem Lagerkommandanten und meinem Vorgesetzten Löffler zu mir. Sie fragten mich, ob ich die Aufgabe übernähme, ein Blockhaus zu bauen. Es sollte aus Baumstämmen gebaut sein und als Wachhaus in Lager Nr. 1 dienen. Als ich anfing, ihm zu erklären, wie man die Arbeit durchführen solle, wendete er sich an seine Begleiter und bemerkte, wie gut ich ihn verstünde.

Es war kein Bauholz oder Baumaterial greifbar. Wir mussten das Holz im Wald sägen. Ich schlug vor, ein Dach aus Schindeln zu bauen, und wir mussten die Dachschindeln selbst anfertigen. Als Folge davon konnte ich die Lage für ziemlich viele Lagerhäftlinge verbessern, da man sie von der Arbeit mit den Leichen befreite, um mich zu unterstützen. Ich baute das Blockhaus im Lager Nr. 2 auf so eine Art, dass man es auseinandernehmen und ins Lager Nr. 1 bringen konnte. Es gefiel allen so gut, dass der Hauptsturmführer und Löffler ihren Kollegen gegenüber damit prahlten, dass sie die Arbeit selbst gemacht haben.

Nach einer Weile war es so weit, den Bau auseinanderzunehmen und ins Lager Nr. 1 zu bringen – aber der Architekt Hermann und der Schreinermeister waren nicht in der Lage, das Gebäude selber wieder zusammenzubauen. Offensichtlich war es einfacher für sie, unschuldige Menschen zu töten als diese Arbeit zu machen. Abermals wandten sie sich an mich, um ihnen zu helfen.

Das passte mir perfekt, da ich auf diese Weise Zugang zu Lager Nr. 1 bekam und unsere Leidensgenossen dort kontaktieren konnte. Ich brauchte Unterstützung für meine Arbeit, und obwohl vier Leute genug gewesen wären, bat ich um acht.

Als ich Lager Nr. 1 betrat, erkannte ich es überhaupt nicht mehr. Es war makellos sauber, und es herrschte strikte Disziplin. Jeden erfasste Panik, sobald er einen Deutschen oder Ukrainer sah. Die Häftlinge im Lager Nr. 1 weigerten sich nicht nur mit uns zu sprechen – sie hatten sogar Angst, uns anzusehen.

Obwohl sie ausgehungert waren und misshandelt wurden, hatten sie eine Geheimorganisation, die effizient funktionierte. Alles war sorgfältig geplant. Ein Warschauer Bäcker namens Lejlejzen, der als Verbindungsmann zwischen den Verschwörern fungierte, arbeitete im Lager Nr. 1 in der Nähe des Zauns. Es war schwierig, Kontakt mit ihm aufzunehmen, da überall deutsche und ukrainische Wachmänner waren und der Zaun mit jungen Bäumen abgedeckt war, und man nie wusste, wer hinter ihnen lauerte.

Den Arbeitern in Lager Nr. 1 drohte ständig die Peitsche. Im Vergleich zu ihnen genossen wir völlige Freiheit. Zum Beispiel durften wir bei der Arbeit rauchen und bekamen sogar Zigarettenrationen. Wir nutzten unsere relative Freiheit für unsere eignen Zwecke. Einige von uns verwickelten unseren Wachmann in ein Gespräch, um ihn abzulenken, während andere die Gelegenheit nutzen, um mit den Häftlingen aus Lager Nr. 1 in Verbindung zu treten.

Wir wurden rechtzeitig Mitglieder eines Komitees der Geheimorganisation – dieser Umstand brachte irgendeine Aussicht auf Erlösung oder wenigstens auf einen Heldentod. Das alles war wegen der Wachsamkeit der Wachmänner und der starken Befestigung des Lagers mit einem beträchtlichen Risiko verbunden. Unser Motto war jedoch „Freiheit oder Tod“. In der Zwischenzeit machte ich das Blockhaus fertig. Um das Ereignis zu feiern, spendierte uns der Hauptsturmführer Alkoholika und Würste. Während wir an dem Blockhaus arbeiteten, bekamen wir ein halbes Kilogramm Brot pro Kopf als zusätzliche Tagesration.

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Im Gegensatz zu unserem Lager wurde das Grauen im Lager Nr. 1 schlimmer – Franz und sein menschenfressender Hund herrschten über die Arbeiter. Während meiner ersten Zeit im Lager Nr. 1 bemerkte ich einige Jungen im Alter zwischen 13 und 14, die eine Gänseschar versorgten und übrige Hausarbeiten verrichteten. Sie waren die Lagerlieblinge. Der Hauptsturmführer umsorgte sie fast so wie ein Vater seine eigenen Kinder: Er versorgte sie, mit dem was sie brauchten und verbrachte häufig Stunden mit ihnen. Er gab ihnen das beste Essen und die besten Kleider. Wegen der guten Betreuung, dem Essen und der frischen Luft, die sie bekamen, dachte ich, dass man ihnen keinen Schaden zufügen würde – aber jetzt, als ich ins Lager Nr. 1 zurückkehrte, bemerkte ich sofort, dass sie nicht mehr da waren. Man sagte mir, dass der Anführer sie statt gehabt und veranlasst habe, sie zu töten.

Nachdem unsere Aufgabe erledigt war, kehrten wir in das Lager Nr. 2 zurück – und machten uns grosse Hoffnung, dass wir bald frei wären. Jedoch konnten wir mit nichts Konkretem weitermachen, und der Kontakt brach wieder ab.

Als wir weg waren, war die Verbrennung der Leichen in Lager Nr. 2 weitergegangen – es waren so viele, und ein Ende war nicht absehbar. Zwei weitere Maschinen wurden herbeigeschafft, um Leichen auszugraben, weitere Feuerroste wurden aufgebaut, und die Arbeit ging schneller voran. Die Feuerroste nahmen fast den ganzen Platz ein. Es war schon Hochsommer, und die Feuerroste gaben eine fürchterliche Hitze ab – und machten den Ort zu einem Inferno. Wir fühlten uns, als ob wir selbst brannten. Wir warteten ängstlich auf den Moment, in dem wir in der Lage sein würden, die Lagertore aufzubrechen.

Mehrere neue Transporte kamen an, aber ich weiss nicht, von woher sie kamen. Zwei Transporte mit Polen kamen auch an, aber da ich sie nicht lebend sah, weiss ich nicht, wie man sie behandelte, als sie sich ausziehen und in die Gaskammern gehen mussten. Sie wurden genauso wie die anderen vergast. Als wir uns um diese Leichen kümmerten, da fiel uns auf, dass sie nicht beschnitten waren. Wir hörten auch wie die Deutschen bemerkten, dass diese „verdammten Polen“ nicht noch einmal rebellieren.

Die jüngeren Lagerhäftlinge wurden immer nervöser und strebten danach, den Aufstand zu beginnen, aber der Zeitpunkt war noch nicht günstig. Die Pläne für den Angriff und die Flucht waren noch nicht fertig. Der Kontakt mit Lager Nr. 1 war schwierig, aber bald darauf konnten wir wieder mit ihnen sprechen.

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An einem Sonntagnachmittag sagte mir mein Vorgesetzter Löffler, dass der Hauptsturmführer einen weiteren Ausgang für das Blockhaus bauen wolle und dass man mir den Auftrag dazu gebe. Es befahl mir, einen Plan zu zeichnen, und ich fügte die zusätzlich benötigten Informationen für den Hauptsturmführer hinzu, der meine Vorschläge akzeptierte. Ich unterbreitete die Anforderungen für das von mir benötigte Material und begann die Arbeit. Ich ergriff begierig diese Gelegenheit, da mir klar war, dass das die letzte Chance sei, die Verschwörer zu kontaktieren. Ich besuchte Lager Nr. 1 unter allen möglichen Vorwänden und diskutierte unsere Pläne mit unseren Mitverschwörern; ihre Informationen waren aber nicht eindeutig. Alles, was sie uns sagten, war, dass wir nicht aufgeben und warten sollen. In der Zwischenzeit baute man grössere und bessere Feuerroste im Lager auf – als ob man sie für die kommenden Jahrhunderte brauche. Als die jüngeren Häftlinge das sahen, drängten sie immer mehr, in Aktion zu treten. Unsere Geduld neigte sich dem Ende zu.

Im Lager Nr. 2 fingen wir an, uns in Fünfergruppen zu organisieren, und jede Gruppe bekam eine spezielle Aufgabe, zum Beispiel die deutsche und ukrainische Besatzung auszulöschen, die Gebäude anzuzünden, die Flucht der Häftlinge zu decken, usw. Die notwendigen Utensilien wurden vorbereitet: stumpfe Gegenstände, um unsere Aufseher zu töten, Hölzer für den Bau von Brücken, Benzin für das Feuerlegen etc.

Das Datum, um den Aufstand zu beginnen wurde auf den 15. Juni festgelegt, aber die Stunde Null wurde mehrere Male verschoben, und man legte neue Termine fest, weil der Zeitpunkt noch nicht günstig war. Das Organisationskomitee traf sich gewöhnlich, nachdem wir für die Nacht in die Baracken eingesperrt worden waren. Nachdem die anderen Häftlinge – von der täglichen Schufterei und Misshandlung erschöpft – eingeschlafen waren, versammelten wir uns in einer Ecke unserer Baracke auf einer der oberen Schlafkojen, und fuhren fort mit unseren Plänen. Wir mussten die jüngeren Männer im Zaum halten, da sie unbedingt handeln und losschlagen wollten, obwohl wir noch gar richtig vorbereitet waren.

Wir beschlossen, ohne die Häftlinge des Lagers Nr. 1 nichts zu tun – denn das wäre einem Selbstmord gleichgekommen. In Lager Nr. 2 waren wir nur ein paar, da nicht alle von uns körperlich in der Lage waren zu kämpfen. Wie ich bereits bemerkt habe, hatten wir besseres Essen und wurden besser behandelt als die Häftlinge in Lager Nr. 1; aber wir waren nur 300 – und sie 700.

Die Häftlinge des Lagers Nr. 1 starben praktisch an Hunger und mussten Schläge und brutale Strafen über sich ergehen lassen, die teuflisch wurden, falls man sie bei Geschäften mit den Ukrainern erwischte. Ich sah mit meinen eigenen Augen, wie einer von ihnen, bei dem man eine Wurst fand, an einen Pfosten gebunden und dazu gezwungen wurde, bewegungslos den ganzen Tag in der glühenden Hitze zu stehen. Da er körperlich ziemlich stark war, überlebte er die Tortur und verriet den Ukrainer nicht, mit dem er Geschäfte gemacht hatte. In diesem Zusammenhang muss ich hinzufügen, dass die Deutschen auch den Ukrainer zusammenschlugen, wenn sie von einem Ukrainer erfuhren, der mit den Häftlingen handelte und Essen für sie schmuggelte. Die Ukrainer wiederum liessen ihre Wut an den Juden aus. Unter solchen Bedingungen lebten die Häftlinge nicht lange. Franz hatte dann Gelegenheit, diese armen Teufel zu den Feuerrosten zu zerren, sie brutal zu foltern, und – nachdem er sie zu Brei geschlagen hatte – zu töten und ihre Leichen in das Feuer zu werfen. Im Hinblick auf diese Bedingungen, wussten wir, dass die Häftlinge aus Lager Nr. 1 einen Aufstand machen würden. Aber da wir nicht fähig waren, irgendetwas ohne sie zu erreichen, schlossen wir unsere Vorbereitungen ab und warteten auf ein Zeichen von ihnen.

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In der Zwischenzeit ging das „Leben“ seinen „gewohnten“ Gang. Ein Ende der makabren Ideen war nicht in Sicht. Die deutsche Besatzung hatte plötzlich das Bedürfnis nach Ablenkung und Vergnügen – da sie keine anderen Sorgen hatten. Dementsprechend organisierten sie obligatorische Theateraufführungen, Konzerte, Tanzabende, etc. Die „Künstler“ rekrutierte man aus den Häftlingen, die für mehrere Stunden von der Arbeit befreit waren, um an Proben teilzunehmen. Die „Vorstellungen“ fanden an Sonntagen statt. Sie waren obligatorisch – und das Publikum bestand aus Deutschen und Ukrainern. Frauen mussten im Chor singen, und das Orchester bestand aus drei Musikern, die man nötigte, jeden Tag beim Appell nach den Auspeitschungen zu spielen. Die Häftlinge wurden gezwungen, jüdische Lieder zu singen, wenn sie zur Arbeit aufbrachen. Man hatte Pläne für eine neue Aufführung gemacht und neue Kostüme dafür bekommen, aber die Schau fand nicht mehr statt – wegen unserem erfolgreichen Aufstand und unserer Flucht.

Während die Deutschen ihr Mittagessen einnehmen (zwischen 12 und 13 Uhr), mussten die Juden auf dem Platz gegenüber der Kantine stehen und musizieren und singen. Die Chormitglieder mussten genauso hart, wie alle anderen arbeiten, aber sie hatten besondere Zeiten, zu denen sie sangen und ihre Musik machten. Im Grossen und Ganzen hatten unsere Peiniger ziemlichen Spass mit dem Rest von uns, da sie uns als Clowns verkleideten und uns Funktionen zuwiesen, die uns – obwohl uns unsere Herzen schmerzten – tatsächlich zum Lachen brachten.

Ein extra von den Deutschen ausgewählter jüdischer Wachmann wurde am Eingang zu unserer Baracke aufgestellt. Er trug rote Hosen wie die eines Tscherkessen, ein enganliegendes Jackett und hatte hölzerne Kartuschen an beiden Brustseiten. Er hatte eine hohe Fellmütze auf dem Kopf und ein Holzgewehr in der Hand. Man zwang ihn, bis zur Erschöpfung herumzualbern und zu tanzen. An Sonntagen trug er einen weissen Leinenanzug mit roten Streifen auf den Hosen, einen roten Kragenspiegel und eine rote Schärpe. Die Deutschen machten ihn häufig betrunken und trieben Unfug mit ihm. Niemand durfte die Baracken während der Arbeitszeit betreten, und so wachte er an der Tür. Sein Name war Moritz, und er kam aus Częstochowa.

So ein weiterer armer Schlucker war der sogenannte „Scheissmeister“. Er war gekleidet wie ein Vorsänger und musste sich sogar einen Spitzbart wachsen lassen. Ein grosser Wecker hing an seinem Hals an einer Schnur. Niemand durfte länger als drei Minuten in der Latrine sein, und seine Aufgabe war es, jedem die Zeit zu stoppen, der sie benutzte. Der arme Kerl hiess Julian. Er kam auch aus Częstochowa, wo er Besitzer einer Metallfabrik gewesen war. Wenn man ihn nur ansah, dann brach man in Lachen aus.

Moritz nahm demütig hin, was immer die Deutschen mit ihm anstellten – er bemerkte nicht einmal, was für eine erbärmliche Figur er machte. Julian war ein selbstsicherer und ruhiger Mann, aber wenn sie anfingen, mit ihm Unfug zu treiben, dann weinte er bitterlich. Er weinte auch, wenn er bei den Feuerrosten arbeitete. Seine Kluft, sein Auftreten und die Aufgabe, die er ausüben musste, forderten die deutschen Teufel heraus, ihn noch mehr zu quälen und sich auf seine Kosten zu amüsieren.

Ich hatte schon länger in Lager Nr. 1 gearbeitet und kehrte jeden Abend ins Lager Nr. 2 zurück. Das verschaffte mir die Gelegenheit, die Verschwörer in Lager Nr. 1 zu kontaktieren. Ich wurde weniger beobachtet als die anderen und auch besser behandelt. Von Zeit zu Zeit vertrauten mir die ukrainischen Wachmänner einige ihrer Besitztümer zur Aufbewahrung an, da sie wussten, dass man mich nicht durchsuchte. Mein Vorgesetzter brachte mir persönlich Essen und passte auf, dass ich es mit niemand anderem teilte. Ich verhielt mich gegenüber den Deutschen nie unterwürfig. Ich nahm nie meine Mütze ab, wenn ich mit Franz redete. Wenn es ein anderer Häftling gewesen wäre, dann hätte er ihn an Ort und Stelle getötet. Aber er flüsterte nur auf Deutsch zu mir: „Wenn du mit mir sprichst, dann denke daran, deine Mütze abzunehmen.“ Unter diesen Bedingungen hatte ich fast völlige Bewegungsfreiheit und Gelegenheit, die notwendigen Vorbereitungen zu treffen.

Seit Längerem waren keine Transporte mehr nach Treblinka gekommen. Dann bemerkte ich eines Tages (als ich in der Nähe des Tors beschäftigt war) eine Stimmungsänderung bei der deutschen Besatzung und den ukrainischen Wachmännern. Der Stabsscharführer – ein Mann von ungefähr 50 Jahren, klein, gedrungen und mit einem bösen Gesicht – verliess das Lager einige Male mit dem Auto. Dann flog das Tor auf und 1000 Zigeuner kamen herein. Dies war der dritte Zigeunertransport, der nach Treblinka kam. Ihnen folgten mehrere Waggons, in denen ihr ganzer Besitz war: schmutzige Lumpen, zerrissene Bettwäsche und anderes alte Zeug. Sie kamen fast ohne Eskorte an – nur zwei Ukrainer in deutschen Uniformen waren bei ihnen, und sie wussten nicht genau, was das alles bedeuten sollte. Sie waren Prinzipienreiter und verlangten sogar einen Beleg, aber man liess sie nicht einmal ins Lager, und ihr Beharren auf einer Empfangsbestätigung wurde mit sarkastischem Lächeln quittiert. Insgeheim erfuhren sie so von unseren Ukrainern, dass sie gerade eine Fuhre neuer Opfer in ein Todeslager gebracht hatten. Sie wurden sichtlich bleich und klopften wieder an das Tor und verlangten Eintritt – darauf kam der Stabsscharführer heraus und übergab ihnen einen verschlossenen Briefumschlag, den sie nahmen und verschwanden. Die Zigeuner, die aus Bessarabien kamen, wurden genauso, wie alle anderen vergast und dann verbrannt.

Der Juli ging seinem Ende zu, und es war glühend heiss. Die härteste Arbeit war an den Massengräbern, und die Männer, die die Leichen zum Verbrennen ausgruben, konnten sich wegen des üblen Gestanks kaum auf den Beinen halten. Mittlerweile waren 75% der Leichen verbrannt worden. Jetzt musste man nur noch den Boden planieren, so dass keine Spur der Verbrechen zurückblieb, die man an diesem Ort begangen hatte. Asche spricht nicht.

Unsere Aufgabe war es, die leeren Gruben mit der Asche der verbrannten Opfer zu füllen – vermischt mit Erde, um alle Spuren der Massengräber zu beseitigen. Die so gewonnene Parzelle musste man auf irgendeine Weise nutzten. Man umzäunte sie mit Stacheldraht, nahm ein zusätzliches Stück Land vom anderen Lager und bildete eine Fläche zur Anpflanzung. Man führte ein Experiment durch, indem man diese Fläche bepflanzte. Der Boden erwies sich als fruchtbar. Die Gärtner unter uns pflanzten Lupinen, die sehr gut wuchsen. Und so wurde das Areal der Massengräber – nachdem man 75% der dort vergrabenen Leichen ausgegraben und verbrannt hatte – eingeebnet, angesät und mit Stacheldraht eingezäunt. Man pflanzte auch Kiefern.

Die Deutschen waren voller Stolz auf das Erreichte und fanden, dass sie etwas anspruchslose Unterhaltung zur Belohnung für ihre Mühen verdient hätten. Sie begannen damit, dass sie die „Pensionierung“ des Baggers feierten, der unsere Brüder ausgegraben hatte. Man stellte ihn auf mit hocherhobener Baggerschaufel auf. Die Deutschen feuerten Gewehrsalven ab. Danach gab es ein ordentliches Festessen, bei dem viel getrunken und gelacht wurde.

Wir profitierten auch von dieser Feier: Man gönnte uns ein paar Tage Atempause von der Arbeit, aber wir wussten nur zu gut, dass das unsere letzten Tage auf der Erde waren, da nur noch 25% der Gräber zu leeren blieben. Sobald das beendet war, würden man uns Wenige – die einzigen Zeugen der entsetzlichen Verbrechen, die man begangen hatte – auch töten. Wir beherrschten uns jedoch und warteten geduldig auf die Erlösung.

Zu der Zeit arbeitete ich ständig im Lager Nr. 1. Ein Teil des Bereichs von Lager Nr. 2 war mit Lager Nr. 1 verbunden worden, und einer der Türme musste ins Lager Nr. 2 gebracht werden. Ich arbeitete mit meinen Leuten daran. Ich war daher in der Lage, mit unseren Kameraden im Lager Nr. 1 in Kontakt zu bleiben.

Innerhalb von einigen Tagen wurde mit der Arbeit begonnen, die übrigen 25% der Gräber zu leeren, und die Körper wurden verbrannt. Wie ich oben bemerkt habe, war es extrem heiss, und jedes geöffnete Grab stank widerlich. Einmal warfen die Deutschen einen brennenden Gegenstand in eines der geöffneten Gräber, um zu sehen, was passieren würde. Sofort strömten schwarze Rauchwolken heraus, und das angezündete Feuer flackerte den ganzen Tag lang. Einige der Gräber enthielten Leichen, die man direkt nach der Vergasung hineingeworfen hatte, so dass die Körper nicht auskühlen konnten. Sie waren so dicht gedrängt, dass Dampf wie aus einem Dampfkessel aus ihnen strömte .

Als man einmal einen Stoss Leichen auf den Feuerrost legte, da ragte ein erhobener Arm heraus. Vier Finger waren zu einer Faust geballt – bis auf den erstarrten Zeigefinger, der direkt in den Himmel wies, wie um unseren Henkern Gottes Urteil zu überlassen. Es war nur ein Zufall, aber es reichte, um alle aus der Fassung zu bringen, die es sahen. Sogar unsere Henker erbleichten und konnten ihre Augen nicht von dieser grausigen Szene abwenden. Es war so, als ob eine höhere Macht am Werk gewesen war. Dieser Arm blieb für sehr lange Zeit nach oben gerichtet. Noch lange – ein Teil des Scheiterhaufens hatte sich bereits in Asche verwandelt – war der erhobene Arm zu sehen, der den den Himmel um ausgleichende Gerechtigkeit bat. Dieser kleine und scheinbar unbedeutende Vorfall verdarbt die gute Laune unserer Henker; wenigstens eine Zeitlang.

Ich arbeitete weiter im Lager Nr. 1 und kehrte jeden Abend ins Lager Nr. 2 zurück. Ich baute eine Abdeckung aus Birkenholz, einen niedrigen Zaun um den Blumengarten herum, in dem man auch Haustiere und Vögel hielt. Es war ein ruhiger und schöner Ort. Um die Bequemlichkeit zu erhöhen, hatte man für die Deutschen und Ukrainer Holzbänke aufgestellt. Aber leider war dieser heitere Ort ein Hort schändlicher Ränke – das einzige Thema war zweifellos wie man uns verzweifelte und elende Gestalten foltern konnte.

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Der Lagerälteste des Lagers Nr. 1 beobachtete mich häufig aus einiger Entfernung bei der Arbeit. Es war verboten, mit einem von uns zu sprechen, aber er sprach oft heimlich einige Worte mit mir. Er war ein Jude von ungefähr 45 Jahren, gross und freundlich und hiess Galewski. Er war ein Ingenieur aus Łódź. Man gab ihm dieses Amt im August 1942, als man die jüdische „Lagerverwaltung“ das erste Mal bildete. Er war die Hauptstütze der Organisationsarbeit. Er prostituierte sich nicht so wie es andere getan hatten, sondern sah sich selbst immer als einer von uns Unglücklichen und wurde genauso oft geschlagen und gehetzt, wie der Rest von uns.

Als er zu mir kam, um kurz ein paar Worte auszutauschen, war er gerade aus einem dreitägigen Arrest in einer Gefängniszelle freigelassen worden. Während er dort war, hatte man ihn nur einmal am Tag herausgelassen – um am Morgen den Fäkalieneimer zu leeren. Jetzt, als niemand in meiner Nähe war, ergriff er die Gelegenheit und konstatierte kategorisch, dass die Jüngeren geduldig sein sollen, da die Stunde der Erlösung näher komme. Er wiederholte es mehrere Male. Ich hatte das Gefühl, dass die Stunde Null nahte und ein Ende wirklich absehbar war.

Als ich am Abend von der Arbeit in die Baracke zurückkehrte, berief ich eine Sitzung ein, um unseren Bereitschaftsgrad zu prüfen. Jeder war aufgeregt, und wir schliefen die ganze Nacht nicht und sahen uns schon ausserhalb des Infernos.

Die Hitze wurde immer unerträglicher. Wir konnten uns kaum auf unseren Beinen zu halten. Der schreckliche Gestank und die Hitze, die die Feuer ausstrahlten, machten uns wahnsinnig. Die Deutschen entschieden deshalb, dass wir von vier Uhr morgens bis zum Mittag arbeiten sollten, worauf sie uns in den Baracken zusammendrängten. Wir waren noch einmal der Verzweiflung nah. Wir hatten Angst, dass wir nun niemals herauskämen. Wir fanden jedoch einen Weg. Wir überzeugten die Deutschen, dass es besser sei, wenn man die Leichen so schnell wie möglich verbrenne und sagten, dass unter uns Freiwillige seien, die für eine Extraration Brot gerne Überstunden machen. Die Deutschen waren einverstanden.

Wir sorgten für zwei Schichten – von der Mittagszeit bis um drei Uhr nachmittags und von drei Uhr nachmittags bis sechs Uhr abends. Wir wählten die richtigen Männer aus und warteten jeden Tag auf das Zeichen. Hinter unseren Baracken war ein Brunnen, der die Küche und die Wäscherei mit Wasser versorgte. Wir wollten auch dieses „Einfallstor“ gebrauchen, obwohl es die ganze Zeit bewacht wurde. Wir gingen oft zu dem Brunnen, auch wenn wir kein Wasser brauchten, damit die Wachmänner sich an den Anblick gewöhnten und wie wir kamen und gingen.

Zu der Zeit kamen überhaupt keine Transporte an, und so exekutierte man einzelne Juden. Schliesslich konnten unsere Henker nicht einfach nur herumsitzen. Aber bald waren alle Deutschen nochmals guter Laune, da neue Opfer angekommen waren: Ein Transport aus Warschau, der wohl aus dem Ausland kam. Alle Menschen in dem Transport waren wohlhabend und sahen reich aus. Es waren ungefähr 1000 Männer, Frauen und Kinder. Uns war klar, dass das ein Transport mit Leuten war, die viel Geld gezahlt hatten, um an einen sicheren Ort gebracht zu werden. Wir ich später erfuhr, hatte man sie im Hotel Polski untergebracht, ein Etablissement 1. Klasse in der Długa Strasse in Warschau, aber dann brachte man sie nach Treblinka. Als wir ihren Besitz und ihre persönlichen Papiere aussortierten, erfuhren wir von ihrer Herkunft. Diese Menschen wurden wie alle anderen auch getötet.

Das gleiche Schicksal traf Transporte, die aus anderen Ländern kamen. Diesen Menschen hatte man gesagt, dass man sie an einen Ort „aussiedle“, der Treblinka heisse. Immer, wenn sie an einem Bahnhof vorbeifuhren, dann steckten die armen Teufel ihre Köpfe aus den Zugfenstern und fragten beiläufig, wie weit es noch bis Treblinka sei. Sie waren erschöpft und freuten sich darauf, einen Ort zu erreichen, an dem sie sich von ihrer beschwerlichen Reise erholen konnten. Als sie endlich in Treblinka ankamen, erlaubte man ihnen, sich auszuruhen – für immer; noch bevor sie sich wirklich erschraken oder Angst bekamen. Als ich dies schreibe, wachsen Lupinen über der Stelle, an der man ihre Asche begraben hat.

Darauf kam ein Transport aus dem Treblinka Straflager[20]. Er bestand aus 500 Juden, die alle mehr tot als lebendig waren – bis auf die Knochen abgearbeitet und brutal gefoltert. Sie sahen so aus, als ob sie um den Tod baten, und sie wurden wie alle anderen getötet.

Wir kamen jedoch dem Ende unserer Leiden näher. Der Tag unserer Erlösung war nicht mehr fern. Gerade dann wurde mein Vorgesetzter Löffler, der mich so gut behandelt hatte, nach Majdanek verlegt. Er tendierte dazu, mich mitzunehmen, damit ich dort arbeiten konnte, und ich geriet in eine schreckliche Zwickmühle. Ich wusste, dass auf jeden von uns ein schrecklicher Tod wartete. In Majdanek war es mir nicht möglich, unter den neuen Bedingungen einen schnellen Weg in die Freiheit zu finden, und ich würde lange brauchen, um mich mit den neuen Leuten und der neuen Lage vertraut zu machen. Die Entscheidung liess mich nicht kalt – schlimmer noch – ich musste Begeisterung vortäuschen, dass mich Löffler mit so einem Angebot  ehrte. Zum Glück für mich weigerte sich der Hauptsturmführer, mich gehen zu lassen. Er brauchte mich noch. Ich für meinen Teil war sehr froh darüber.

Etwa zu dieser Zeit befahl man uns – aus einem uns unbekannten Grund – Briefe zu schreiben. Einige von uns waren so naiv, das zu tun. Später sah ich mit eigenen Augen, wie man die Briefe verbrannte. Ich weiss nicht, ob das nur ein Spiel war, Schabernack oder was auch immer.

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Der endgültige und unwiderrufliche Termin für den Beginn des Aufstandes wurde auf den 2. August festgelegt – instinktiv fühlten wir, dass das wirklich der Tag sein würde. Wir fingen an, unsere Vorbereitungen zu machen und prüften, ob alles bereit war und ob jeder unserer Männer über seine Rolle, die er spielen sollte, Bescheid wusste.

Dann war es so, dass ich für mehrere Tage nicht in das Lager Nr. 1 ging, da ich damit beschäftigt war, ein achteckiges Gebäude mit Neigedach zu bauen, das einem Wachhaus ähnlich war – ein Brunnen sollte dort untergebracht werden. Im Lager Nr. 2 baute ich auch ein versetzbares Gebäude, das man auseinandernehmen konnte, und das ich anschliessend in das Lager Nr. 1 bringen musste, wo es dauerhaft bleiben sollte. Ich wurde ungeduldig, da ich nicht in der Lage war, mich mit Lager Nr. 1 in Verbindung zu setzen und die Stunde Null näher kam. Der 2. August 1943 – flimmernde Hitze. Die Sonne schien hell durch die kleinen vergitterten Fenster unserer Baracke. Wir hatten die ganze Nacht fast nicht geschlafen und bei Tagesanbruch waren wir hellwach und angespannt. Jedem von uns war die Bedeutung dieses Moments bewusst, und jeder dachte nur daran, in die Freiheit zu gelangen. Wir hatten unsere miserable Existenz satt, und alles, was zählte war die Rache an unseren Peinigern und die Flucht. Was mich betrifft, so erhoffte ich mir, in ein ruhiges Waldstück zu kriechen und mich dort ruhig auszuschlafen.

Gleichzeitig waren wir uns der zu bewältigenden Schwierigkeiten sehr bewusst. Mit bewaffneten Wachen bestückte Wachtürme standen um das ganze Lager herum, und das Lager wimmelte von Deutschen und Ukrainern, die mit Gewehren, Maschinengewehren und Revolvern bewaffnet waren. Sie schlossen uns schon um 12 Uhr mittags  in unsere Baracken ein. Das Lager umgaben mehrere Reihen Zäune und Gräben.

Wir beschlossen aber, es zu riskieren, egal was käme. Wir hatten genug von der Folter, von den schrecklichen Szenen. Ich für meinen Teil war entschlossen zu leben, um der Welt eine Beschreibung des Infernos zu liefern und zu zeigen, wie dieses verfluchte und elende Loch gestaltet war. Diese Entschlossenheit hatte mir die Kraft gegeben, um gegen die Henker zu kämpfen und die Ausdauer, das Elend zu ertragen. Ich fühlte irgendwie, dass ich unseren Ausbruch in die Freiheit überleben würde.

Der kommende Aufstand lag in der Luft, und unsere Nerven waren extrem angespannt. Die Deutschen und Ukrainer bemerkten nichts Aussergewöhnliches. Sie hatten Millionen Menschen ausgelöscht und fanden, dass sie eine erbärmliche Handvoll Männer wie uns nicht zu fürchten haben. Sie bellten Befehle, denen man wie üblich Folge leistete. Aber diejenigen von uns, die zum Komitee gehörten, waren besorgt – wir hatten keine Informationen über den Zeitpunkt des Aufstands. Ich war unruhig. Ich arbeitete weiter, war aber die ganze Zeit beunruhigt, dass wir keinen Kontakt herstellten, was bedeutete, dass wir elendig und sinnlos zugrunde gingen.

Jedoch fand ich einen Weg, um mit Lager Nr. 1 zu kommunizieren. Mein Vorgesetzter Löffler war nicht mehr da – er war durch einen neuen Mann ersetzt worden, dessen Namen ich nicht kannte. Wir gaben ihm den Spitznamen „Braunhemd“. Er war sehr freundlich zu mir. Ich ging zu ihm und fragte ihn nach ein paar Brettern. Man lagerte Bretter im Lager Nr. 1, und da er unsere Arbeit nicht unterbrechen wollte, ging er mit ein paar Arbeitern hin, um sie zu holen. Man brachte die Bretter. Ich prüfte und mass sie aus und sagte darauf, dass sie nicht geeignet seien. Ich bot an, selbst hinzugehen, um das Material auszuwählen, dass ich bräuchte; ich machte aber ein schiefes Gesicht, als ob mir das nicht recht sei. So ging ich zum Lagerschuppen mit meinem Vorgesetzten und zitterte dabei vor Aufregung. Ich spürte, dass ich das Beste aus dieser Gelegenheit müsse, da sonst alles verloren sei.

Bald war ich in Lager Nr. 1 und schaute mich nervös um und schätzte unsere Chancen ein. Drei weitere Männer waren bei mir. Der Lagerschuppen wurde von einem ungefähr 50-jährigen Juden mit Brille bewacht. Weil er ein Häftling des Lagers Nr. 1 war, wusste ich nichts über ihn, aber er war Teil der Verschwörung. Meine drei Hilfskräfte lenkten die Aufmerksamkeit des deutschen Vorgesetzten durch ein Gespräch ab, während ich so tat, als ob ich Bretter auswählte. Ich ging absichtlich von den anderen weg und fuhr fort, Bretter auszuwählen. Plötzlich flüsterte jemand in mein Ohr: „Heute um 17.30“. Ich drehte mich etwas um und sah den jüdischen Wachmann des Lagerschuppens vor mir. Er wiederholte diese Worte und fügte hinzu: „Es wird ein Zeichen geben“.

In fieberhafter Hast sammelte ich die mir am nächsten liegenden Bretter ein, befahl meinen Kameraden, sie an sich zu nehmen; und ich fing an zu arbeiten und hatte dabei schreckliche Angst, meine Gefühle zu verraten. So ging die Zeit bis zum Mittag vorbei, und alle Arbeitskräfte kehrten von der Arbeit zurück. Unser Komitee traf sich wieder heimlich, und die Information wurde weitergegeben. Ich bat jeden, ruhig zu bleiben und an seine jeweilige Aufgabe zu denken. Die Jüngeren von uns waren sehr aufgeregt. Als ich unsere Gruppe betrachtete, überzeugte ich mich davon, dass wir wirklich Erfolg haben könnten.

Danach wählte man Freiwillige für die Nachmittagsschicht aus. Wir kommandierten die schwächeren und weniger fähigen Männer für die erste Schicht ab, da sie keine Aufgabe zu erfüllen hatte. Die erste Nachmittagsschicht kehrte um 15 Uhr von der Arbeit zurück. Die Männer, die wir für danach ausgewählt hatten, gingen zur Arbeit – 30 Stück. Sie waren die Mutigsten, die Tapfersten und die Stärksten aus der Gruppe. Ihre Aufgabe war es, den Weg für die Anderen frei zu machen, damit sie fliehen konnten. Eine weitere Gruppe wurde aufgestellt, um Wasser vom Brunnen zu holen. Gegen 17 Uhr wurde plötzlich sehr viel Wasser benötigt. Das zum Brunnen führende Tor wurde weit geöffnet und die Anzahl der Wasserträger beträchtlich erhöht.

Alle, die man dazu abkommandiert hatte, mit den Leichen zu arbeiten trugen ausschliesslich gestreifte Arbeitskleidung. Als Strafe für das Tragen anderer Kleidung bei dieser Arbeit wurden 25 Peitschenhiebe ausgeteilt. An diesem Tag trugen die Männer jedoch ihre Kleidung unter den Overalls. Bevor sie flohen, mussten sie ihre Arbeitskleidung loswerden, die sie sonst sofort verraten hätte. Wir blieben in unseren Baracken, sassen eng beieinander und tauschten Blicke – alle paar Minuten bemerkte jemand, dass die Zeit näher rücke. Was wir zu diesem Zeitpunkt fühlten kann man nicht beschreiben. Wir verabschiedeten uns im Stillen von diesem Ort, an dem die Asche unserer Brüder begraben war. Elend und Leid verband uns mit Treblinka, aber wir waren immer noch am Leben und wollten von diesem Ort fliehen, an dem so viele unschuldige Opfer ums Leben gekommen waren. Die langen Prozessionen – diese grauenhaften Todeskarawanen – waren immer noch vor unseren Augen und schrien nach Rache. Wir wussten, was unter dieser Erdoberfläche lag. Wir waren die einzig Übriggebliebenen, die davon erzählen konnten. Stumm nahmen wir Abschied von der Asche unserer jüdischen Kameraden und gelobten Rache für ihr vergossenes Blut.

Plötzlich hörten wir das Signal: Es war ein Schuss in die Luft.

Wir sprangen auf unsere Beine. Jeder stürzte sich auf seine vorher abgesprochene Aufgabe und führte sie genau aus. Eine der schwierigsten Aufgaben war, die Ukrainer von ihren Wachtürmern zu locken. Wenn sie einmal angefangen hätten, von oben auf uns zu schiessen, dann hätten wir keine Chance gehabt, lebend zu entkommen. Wir wussten, dass Gold für sie eine gewaltige Anziehungskraft hatte, und sie hatten die ganze Zeit mit den Juden Geschäfte gemacht. Als daher der Schuss fiel, schlich sich einer der Juden zum Wachturm und zeigte dem ukrainischen Wachmann eine Goldmünze. Der Ukrainer vergass völlig, dass er Wachdienst hatte. Er liess sein Maschinengewehr liegen und kletterte hastig herunter, um dem Juden das Goldstück wegzunehmen. Sie packten und töteten ihn und nahmen seinen Revolver. Die Wachmänner auf den anderen Türmen wurden auch schnell abgefertigt.

Jeden Deutschen und Ukrainer, dem wir auf unserem Weg hinaus begegneten, töteten wir. Der Angriff war so überraschend, dass die Deutschen die Fassung noch nicht wiedererlangt hatten und der Weg in die Freiheit schon weit offen für uns lag. Wir schnappten die Waffen aus dem Wachhaus, und jeder von uns nahm so viele Waffen an sich, wie er konnte. Gleich als der Signalschuss ertönte hatte man den Wachmann am Brunnen getötet und seine Waffen an sich genommen. Wir rannten alle aus unseren Baracken und nahmen die für uns vorgesehenen Positionen ein. Nach ein paar Minuten hörten wir von allen Seiten Schüsse. Wir hatten unsere Pflicht gut erfüllt.

Ich ergriff ein paar Waffen und schoss nach rechts und links, aber als ich sah, dass der Fluchtweg offen war, nahm ich eine Axt und eine Säge und rannte. Zuerst war die Situation unter unserer Kontrolle. Jedoch wurde nach kurzer Zeit die Verfolgung aus allen Richtungen aufgenommen: aus Malkinia, Kosów und aus dem Straflager Treblinka. Es sah so aus, als ob sie sofort Hilfe geschickt hatten als sie das Feuer sahen und die Schüsse hörten.

Unser Ziel war es, den Wald zu erreichen – aber das nächste Waldstück lag acht Kilometer weit weg. Wir rannten durch Sümpfe, über Weiden und sprangen über Gräber, und Schuss um Schuss fielen hinter uns. Jede Sekunde zählte. Einziges Ziel war, den Wald zu erreichen; dort würden uns die Deutschen nicht verfolgen.

Gerade, als ich dachte, dass ich sicher sei – ich rannte so schnell ich konnte geradeaus – hörte ich plötzlich das Kommando „Halt!“ direkt hinter mir. Ich war schon erschöpft, aber ich rannte genauso schnell weiter. Der Wald lag direkt vor mir, nur ein paar Sätze entfernt. Ich nahm meine ganze Willenskraft zusammen, um weiterzurennen. Der Verfolger holte auf, und ich konnte hören, wie er direkt hinter mir rannte.

Dann hörte ich einen Schuss und im gleichen Moment fühlte ich einen stechenden Schmerz in meiner Schulter. Ich drehte mich um und sah einen Wachmann aus dem Treblinka Straflager. Er zielte nochmals mit der Pistole auf mich. Ich kannte mich mit Waffen aus und bemerkte, dass die Waffe eine Ladehemmung hatte. Ich nutzte das aus und lief absichtlich langsamer. Ich zog die Axt aus meinem Gürtel. Mein Verfolger – ein ukrainischer Wachmann – holte mich ein und schrie auf Ukrainisch „Halt oder ich schiesse!“ Ich drehte mich zu ihm und traf ihn mit meiner Axt auf der linken Brustseite. Er brach vor meinen Füssen zusammen.

Ich war frei und rannte in den Wald. Nachdem ich etwas tiefer in das Dickicht eingedrungen war, setzte ich mich zwischen die Sträucher. In der Ferne hörte ich viele Schüsse. Es ist fast nicht glauben, aber die Kugel hatte mich nicht wirklich getroffen. Sie war durch meine Kleidung gegangen, an meiner Schulter abgeprallt und hatte einen Abdruck hinterlassen. Ich war allein.

Endlich konnte ich zur Ruhe kommen.

 

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Englische Version, der der obige Text zugrunde liegt unter https://yearintreblinka.wordpress.com/ oder http://www.zchor.org/treblink/wiernik.htm

zu Jankiel Wiernik siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Jankiel_Wiernik

zum Vernichtungslager Treblinka, in dem zwischen 700.000 und einer Million (laut Samuel Willenberg) Juden ermordet wurden: http://de.wikipedia.org/wiki/Vernichtungslager_Treblinka


[2]           Sogenannte Blockade: Ein Stadtteil oder Block im Ghetto wurde abgesperrt und alle Bewohner deportiert. Das Warschauer Ghetto, offiziell seit 2. dem Oktober 1940 bestehend,  wurde durch die SS ab dem 22. Juli 1942 im Rahmen der „Endlösung der Judenfrage“ nach und nach liquidiert. Die meisten Menschen wurden nach Treblinka deportiert. Vom 22. Juli 1942 bis 21. September 1942 wurden 300.000 Menschen aus dem Ghetto nach Treblinka deportiert und dort ermordet.

[3]           Kurt Franz, seit April 1942 SS-Oberscharführer. Ab Sommer 1942 Stellvertreter des Treblinka-Lagerkommandanten Franz Stangl (Kommandant von September 1942 bis August 1943 – wurde als einziger Kommandant eines Vernichtungslagers 1970 zu lebenslänglicher Haft verurteilt). Franz war die dominante Person im Lager, und war selber Kommandant von August bis November 1943. Er wurde 1965 zu lebenslänglicher Haft verurteilt. http://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Franz_%28SS-Mitglied%29.

[4]           Sogenannter Umschlagplatz, siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Umschlagplatz_am_Warschauer_Ghetto

[5]           Im Zweiten Weltkrieg existierte eine Bahnlinie Malkinia-Siedlce – direkt von Warschau führten Gleise zu der Abzweigung Malkinia. Das Vernichtungslager Treblinka lag 4 km südöstlich der Abzweigung Malkinia. Von dort aus wurde ein Gleis in das Lager gelegt.

[6]           Staatsführer der Zweiten Polnischen Republik (1926–1935). Wesentlich an der Gründung der Zweiten Republik 1918 beteiligt, der erste polnische Staat nach mehr als 120 Jahren Fremdherrschaft. Der Marschall war bei den polnischen Juden sehr beliebt, da er persönlich für ihren Schutz sorgte.

[7]           Ein verwerflicher Vorgang – jedoch muss man bedenken, dass die deutsche Besatzungsmacht die polnische Bevölkerung aushungerte, so dass diese selbst fast nichts zu essen hatte.

[8]           Das war Willi Mentz, SS-Unterscharführer. Er war von Juni/Juli 1942 bis November 1943 in Treblinka als Chef des Landwirtschaftskommandos und als Aufseher im Lazarett. Er trug einen weissen Arbeitskittel und war für die Routineexekutionen im Lazarett zuständig, wenn neue Transporte ankamen. Mentz wurde im ersten Treblinka-Prozess zu lebenslänglicher Haft verurteilt.

[9]           Das Lagerpersonal bestand aus einigen Dutzend Deutschen und ungefähr 120 Ukrainern.

[10]          In seiner Aussage während dem Eichmann Prozess nennt Wiernik diesen Korridor „Schlauch“ http://www.nizkor.org/hweb/people/e/eichmann-adolf/transcripts/Sessions/Session-066-04.html. Dieser Korridor wurde auch als Himmelsstrasse/allee bezeichnet.

[11]          Einige Jahrzehnte nach dem Krieg wurde John Demjanjuk (Іван Миколайович Дем‘янюк) als vermeintlicher „Ivan der Schreckliche“ identifiziert – ein Soldat der Roten Armee, der nach seiner Gefangennahme durch die Deutschen vom Tod verschont wurde, weil er sich 1942 als Hilfswilliger zur SS meldete. Der verdächtige John Demjanjuk emigrierte nach dem Krieg in die USA, und von dort wurde er 1986 nach Israel überstellt, wo er für sein Tun im Vernichtungslager Treblinka zum Tode verurteilt wurde. 1993 wurde dieses Urteil allerdings vom israelischen Höchsten Gericht aufgehoben (er sei mit Ivan Marchuk, dem eigentlichen „Ivan“, verwechselt worden). http://www.nytimes.com/1993/08/12/world /israel-recommends-that-demjanjuk-be-released.html?scp=3&sq=Demjanjuk%20&st=cse. Demjanjuk kehrte in die USA zurück. Allerdings wurde er 2009 nach Deutschland ausgeliefert und am 12. Mai 2011 wegen Beihilfe zum Mord in 28.060 Fällen im Vernichtungslager Sobibor im Frühling 1943 zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. http://www.welt.de/politik/deutschland/article13367603/John-Demjanjuk-zu-fuenf-Jahren-Haft-verurteilt.html und http://www.spiegel.de/panorama/fall-john-demjanjuk-unbehagen-nach-dem-urteil-a-762193.html.

Bis zum Schluss gab es Zweifel an der Überstimmung beider Personen – Kyiv Post stellte 2011 in einem Artikel – der leider fast nicht beachtet wurde – fest, dass es im betreffenden Heimatort zwei Ivan Demjanjuks gegeben hatte. Womöglich war der falsche Demjanjuk verurteilt worden, da der „richtige“ 1972 Selbstmord begangen hatte. http://www.willzuzak.ca/fc/2011/feduschak20110602KyivPost.html.

[12]          Mit diesen Haaren füllten die Deutschen Matratzen und statten unter anderem U-Bootbesatzungen damit aus.

[13]          Das waren die sogenannten Hof- und Goldjuden. Hofjuden wurden die Handwerker in den SS- Werkstätten genannt, die „Goldjuden“ sortierten Gold und andere Wertgegenstände.

[14]          Im Februar 1943 fanden deutsche Streitkräfte beim russischen Dorf Katyn (20 km westlich von Smolensk) die Massengräber von ca. 4.400 polnischen Offizieren, die dort zwischen dem 3. April und 19. Mai 1940 vom sowjetischen Geheimdienst NKWD umgebracht worden waren. Die Massaker von Katyn sind ein Oberbegriff für eine Serie von Massenmorden an etwa 10.000 polnischen Offizieren (ungefähr der Hälfte des polnischen Offizierskorps von vor 1939), dazu Polizisten und Intellektuellen, die als Reserveoffiziere eingezogen waren, und einen Grossteil der polnischen Elite darstellten. Im Frühling 1940 wurden an ca. fünf verschiedenen Orten im heutigen Russland, der Ukraine und Weissrussland insgesamt etwa 21 768 Menschen ermordet. Mit der Liquidierung dieser Teils der polnischen Elite sollte der Widerstand der Polen und des polnischen Untergrundstaates gegen die Sowjetunion gebrochen werden. Der Befehl kam direkt von Josef Stalin – die Sowjetunion versuchte, die Verbrechen bis 1990 zu vertuschen und spielt sie immer noch herunter. Sie sind bis heute von keiner internationalen Instanz als Genozid anerkannt.

[15]          Auf Deutsch oft fälschlicherweise als Typhus bezeichnet. Fleckfieber ist eine Infektionskrankheit, die durch Mikroorganismen (Rickettsien) hervorgerufen und durch Läuse, Milben, Zecken oder Flöhe übertragen wird. Symptome sind plötzliche Kopfschmerzen und hohes Fieber, starker Gewichts- und Flüssigkeitsverlust und fleckiger Hautausschlag  nach ca. fünf Tagen, später Bewusstseinstrübung und Bewusstlosigkeit.

[16]          Jankiel Wiernik wurde 1889 geboren und war 1943 bereits 54 Jahre alt.

[17]          Einige Fluchten waren erfolgreich, zum Beispiel auch in den Kleiderstapeln/bündeln, die mit den Zugwaggons aus Treblinka weggefahren wurden; Beispiele unter: http://www.holocaustresearchproject.org/ar/treblinka/treblinkarememberme.html.

[18]          Das war ein Teil der Überlebenden des Oster-Aufstandes 1943 im jüdischen Ghetto Warschau siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Aufstand_im_Warschauer_Ghetto.

[19]          Alfred Löffler: SS-Unterscharführer, der später in Italien starb. Ein Grossteil der deutschen SS-Besatzung (20 bis 30 Leute) waren vorher an der Aktion T4 beteiligt gewesen (systematische Ermordung von ca. 70.000 Behinderten zwischen 1940 und 1941 im Deutschen Reich) und wurden später in die Vernichtungslager der Aktion Reinhardt verlegt. Mit „Aktion Reinhardt“ wurde die systematische Vernichtung aller Juden im Generalgouvernement, d.h. den nicht ins deutsche Reich eingegliederten Gebieten Polens in den Grenzen von 1939, bezeichnet. Es handelte sich dabei um die Lager Sobibor, Belzec, Majdanek und Treblinka. Ein „harter Kern“ des SS-Personals und auch der ukrainischen Hilfstruppen war in nicht nur einem Lager eingesetzt. Nach der Auflösung dieser Lager wurden die meisten nach Triest in Italien zur Partisanenbekämpfung ins SS-Einsatzkommando R 1 versetzt, um sich unbequemer Zeugen zu entledigen.

[20]          Das zuerst für Polen eingerichtete Arbeitslager lag etwas fünf Kilometer südlich der Ortschaft Treblinka in der Nähe des Vernichtungslagers und bestand von Juli 1941 bis zum August 1944 (insgesamt ca. 20.000 Häftlinge). Die Häftlinge arbeiteten in einer nahegelegenen Kiesgrube und am Fluss Bug und wurden zum Teil auch zum Bau des Vernichtungslagers eingesetzt.

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